Bonjour tristesse

Abendstimmung Hamburg Rahlstedt

Bonjour tristesse

« Als Ryôkan von einem Verwandten, dem Haus und Hof abgebrannt waren, um Rat gefragt wurde, wie er dem Unglück entfliehen könne, meinte er:

„Im Unglück sollst du unglücklich sein, wenn du stirbst, musst du einfach nur sterben. Auf diese Weise kannst du jedem Unglück entkommen.“ »

Kôdô Sawaki

Bonjour tristesse. Mit dem Titel ist nicht der gleichnamige Roman von Françoise Sagan gemeint. Vielmehr ist er durch einen Satz von Matthieu Ricard inspiriert.

Bonjour tristesse, bienvenue! – Trauer und Depression, Hilflosigkeit und Verzweiflung, Angst und Panik. Negative Gefühle gehören zum Menschsein dazu, wie Krankheit, Alter und Tod.

Tal Ben-Shahar sagte 2006 auf einem sehr inspirierenden Vortrag [1], dass nur zwei Arten von Menschen diese negativen Gefühle nicht hätten: Tote Menschen und Psychopathen.

Die Abwehr des Grauens…

Dennoch ist die Menschheit bemüht, schlechte Gefühle möglichst zu negieren. Wem es schlecht geht, dem wird geraten, sich doch einfach einmal zusammenzureißen. Und so schlimm sei doch alles gar nicht. Und überhaupt, was heiße da Depression? Kopf hoch!

Derjenige also, dem es schlecht geht, gerät schnell unter Rechtfertigungsdruck. Schlimmer noch, er beginnt sich selbst herunterzumachen: « Warum schaffe ich es nicht, einfach glücklich zu sein? Warum stelle ich mich so an? » Denn seine Mitmenschen spiegeln ihm ja, dass er da irgendetwas falsch macht, wenn er sich nicht am kollektiven Fröhlichsein beteiligt, sondern sich betrübt zeigt.

Zu den belastenden Gefühlen gesellen sich somit Schuldgedanken, der Selbstwert begibt sich in die Tiefgarage – und diese hat mehrere Etagen. Es geht immer noch ein Stück tiefer. Die Worte der Mitmenschen wechseln vom anfänglichen « Kopf hoch! » zu genervten Vorwürfen. Kummer, Trauer, Ängste, Sorgen dürfen nicht sein. Kaum eine Patient*in, die nicht davon zu erzählen weiß, wie vorwurfsvoll und abwertend das Umfeld oft reagiert: «Stell dich nicht so an! Du hast doch gar keinen Grund! Reiß dich zusammen! » – Wir hören diese Worte oft schon als Kinder, wenn wir traurig sind.

Die Gesellschaft kämpft – institutionalisiert und im Einzelnen – gegen das Grauen. Es soll besiegt werden – wie Krankheit und Tod im Übrigen auch.

Wir wünschen uns da etwas, was nicht realistisch ist. Ähnlich den Werbespots, in denen tonnenschwere SUVs durch wilde, menschenleere Berglandschaften kurven. In der Realität sieht man sie eher im täglichen Stau auf der Stadtautobahn stehen.

« Don’t fight reality! »

– Sabrina Fox

Es ist selten gut zu kämpfen. Und wenn man erst einmal angefangen hat zu kämpfen, ist Zerstörung die natürliche Folge. Gegen die Realität zu kämpfen, ist die schlechteste Idee überhaupt. Denn die Kraft der Zerstörung trifft einen dann unausweichlich selbst.

Wer also gegen seine schlechten Gefühle kämpft, sie nicht haben möchte, wird sie immer verschlimmern. Wer gegen die schlechten Gefühle seiner Mitmenschen kämpft, wird sie verschlimmern.

Bonjour tristesse, bienvenue!

Doch wir sind frei, den Kampf gegen negative Gefühle zu führen oder nicht. Befreien wir uns von jenen Gedanken, die uns aus allen Richtungen suggeriert werden, dass zu einem guten Leben das unbedingte Glücklichsein dazugehört, können wir beginnen, daran zu arbeiten, unsere schlechten Gefühle und die der anderen anzunehmen. Und wenn wir sie annehmen, wird das Leben leichter.

Eben dies sagt Zen-Meister Ryôkan mit dem erwähnten Zitat: « Im Unglück sollst du unglücklich sein, wenn du stirbst, musst du einfach nur sterben. Auf diese Weise kannst du jedem Unglück entkommen. »

Selbstmitgefühl statt Kampf, wenn es einem selbst schlecht geht. Liebevoll mit seinem Kummer umgehen.

Liebende Güte (Metta), wenn es anderen schlecht geht. Den Kummer der anderen aushalten, ihn einfach begleiten.

Beides – Selbstmitgefühl und liebende Güte – bedarf Übung und Training. Das gelingt durch verschiedene Meditationstechniken. Oder im Fall von Selbstmitgefühl ersatzweise über die Vorstellung eines inneren Kindes, um das man sich kümmert. Russ Harris (2013) schreibt: « Vielen Menschen fällt es wesentlich leichter, einem kleinen Kind, das leidet, Mitgefühl entgegenzubringen, als sich selbst, diese Übung bedient sich dieser Tatsache. »

Ich gehe diesen Umweg in meiner Arbeit ungerne, weil die Imagination einer zusätzlichen Entität Menschen von sich selbst im Hier-und-Jetzt wegbringt. Denn wer leidet, ist nicht das innere Kind, sondern der erwachsene Mensch im Hier-und-Jetzt. Bringe ich diesem Menschen in seinem gegenwärtigen Leiden liebende Güte entgegen, gelingt auch das Selbstmitgefühl meist ohne den Umweg über das innere Kind.

Annehmen, was ist…

Wir müssen also lernen anzunehmen, was ist. Den Schmerz, den Kummer, die Verzweiflung, die Depression. Diese Annahme gelingt über das bewusste Wahrnehmen und Beobachten dessen, was ist, ohne dies (negativ) zu bewerten:

Die Brust, die sich zusammenzieht, weil man weinen müsste, wenn man versuchte, tief zu atmen. Die Schwere in den Gliedern. Die Schwere im Gesicht. Die Wangen, die sich verkrampfen, und schließlich vielleicht die Tränen…

Beobachten, wahrnehmen: Ah, da sind Schmerz, Trauer, Verzweiflung. Sie sind da… « Im Unglück sollst du unglücklich sein… » – Und sie gehen vorbei, irgendwann. Ganz sicher!

Das mag nicht einfach sein. Aber man kann das lernen. – Eigene Erfahrung!

Folgende Analogie mag dabei helfen, das bewusste Beobachten zu lernen:

Manchmal schaut man einen Film, der einen tief berührt. Man leidet mit, spürt die Emotionen, die Verzweiflung, das Leiden einer Figur in diesem Film. Man weint, weil man mitfühlt. Doch der Film stürzt einen nicht in Verzweiflung, vielmehr ist es ein tiefes Erleben. Genau das ist mit bewusstem Beobachten und Wahrnehmen gemeint! Gute Dramaturgie und Kameraführung vereinfachen diesen Prozess. In unserem eigenen Leben haben wir das nicht, müssen Dramaturgie und Kameraführung in die eigene Hand nehmen und unserem eigenen Leiden mit dem gleichen tiefen Erleben begegnen.

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[1] Tal Ben-Shahar. Positive Psychology: The Science of Happiness. WGBH Forum Network. WED, OCT 4, 2006 (1:58)