Französische Filme

Spaziergängerinnen, Neuer Garten, Potsdam

Französische Filme

« Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing. »

William Shakespeare
Macbeth

 

« Das Leben hat keinen Sinn! »

Muhô, Abt von Antaiji
Urania Berlin, 06.09.2016

Eine einsame Landstraße. Im Autoradio laufen die Nachrichten. Belanglos. Die alte Dame fährt gemächlich, schaut sinnierend auf den Asphalt, schaut in die vorbeiziehende karge Landschaft. Ein Bericht: Die Scheidungsrate ist in den letzten Jahren um 20 Prozent gestiegen… Die Stimme im Radio, der versonnene Blick der alten Dame. Der betagte Renault, die Straße. Felder, einzelne Bäume. Ab und zu ein verlorenes weißes Haus. Die Bretagne vielleicht.

Eine Bushaltestelle im Nirgendwo. Auf der Bank eine Frau um die 40, hängende Schultern, vom Wind zerzauste Locken, der Blick ins Leere gerichtet. Die alte Dame schaut, hält an. « Wollen Sie mitfahren? »

« Ja, warum nicht, danke! », die lakonische Antwort.

« Vergessen Sie Ihre Tasche nicht! »

« Ach ja… »

Schweigend sitzen die Frauen im Auto. Der versonnene Blick der alten Dame, die vorbeiziehende Landschaft.

So oder ähnlich beginnen oft französische Filme.

Die Frau erzählt vielleicht, dass sie Mann und Tochter verlassen hat. Die alte Dame hört zu, stellt Fragen. Emotionslos, trocken, jedoch nicht uninteressiert. Ihr Blick bleibt sinnierend auf die Straße vor ihr gerichtet.

Die Dialoge sind langsam, oft stoisch.

Das Mobiltelefon der Frau klingelt. Sie nimmt es in die Hand, schaut seufzend darauf.

« Nein, ich will nicht… »

« War das Ihr Mann? »

« Nein, meine Tochter…»

« Wie alt ist sie? »

Die Frauen schweigen. Die Landschaft zieht vorüber.

Die alte Dame erzählt, dass sie keine Kinder hat und auch keine Mann.

« Wo wollen Sie hin? »

« Ich weiß es nicht… »

« Die Tibeter sagen, dass es gut ist, wenn man nicht weiß, wohin man will oder wer man ist… Lieben Sie Ihren Mann nicht mehr? »

Schulterzucken. « Habe ich ihn überhaupt je geliebt? »

So vergeht die erste viertel Stunde des Films. Der introvertierte Zuschauer wird neugierig auf die Geschichte, die sich zu entspinnen scheint. Der extrovertierte schaut gähnend auf sein Handy.

Denkt man in Hollywood-Dimensionen hofft man vielleicht auf eine Versöhnung, ein Happy End in der folgenden Stunde.

Ist man französische Filme gewöhnt, weiß man, dass man den verlassenen Ehemann wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen wird. Und man weiß auch, dass der Film womöglich so enden wird, wie er begonnen hat.

Man hat etwas über die Frau erfahren, die Mann und Kind verlassen hat. Man hat sie in ihrem Erleben und Fühlen begleitet, hat ein armseliges Bistro kennengelernt, in welcher die Frauen etwas gegessen haben. Immer mal wieder hat das Mobiltelefon geklingelt. Flüchtige Begegnungen mit Unbekannten wechselten sich ab.

Man hat auch etwas über den Ehemann erfahren, einen gutmütigen und servilen Techniker, der offenbar nicht verstanden hatte, warum er verlassen wurde. Und die halbwüchsige Tochter, die wohl wie ihre Mutter nie Liebe erfahren hatte.

Französische Filme ähneln oft psychotherapeutischen Sitzungen, die von intensiven und stillen Bildern begleitet werden.

Manchmal gibt es auch intensive Gefühle.

Doch während Hollywood jene intensiven Gefühle zum Höhepunkt und zur glücklichen Lösung führt, trennen sich im französischen Film die beiden Frauen so plötzlich, wie sie sich begegnet sind.

« Ich will hier aussteigen! »

« Warum, es ist Abend und kein Haus weit und breit? »

« Lassen Sie mich hier aussteigen, ich bitte Sie! »

Was wie der Übergang zur nächsten Szene erscheint, ist in französischen Filmen oft der Moment, wo der Abspann folgt.

Etwas ungläubig sieht man den Text vorüberziehen. Verwirrt, enttäuscht. Betrogen um eine versprochene Geschichte. Die Frage, was das soll. Und die Frage, ob man etwas nicht verstanden hat. Jedoch vielleicht versöhnt von der melancholischen Melodie des Abspanns.

Fragen statt Antworten


Überhaupt hinterlassen französische Filme eher Fragen, als dass die Antworten gäben.

Irgendwann begreift man, dass eben das Faszinierende an französischen Filmen die Fragen sind, welche sie im Kopf erzeugen.

Und irgendwann begreift man, dass diese Filme viel näher am wirklichen Leben sind als die Produktionen Hollywoods.

Wir wünschen uns nur allzu oft, dass unser Leben ein Hollywood-Streifen mit Happy End sei, während der Erzählstrang unserer Lebensgeschichte eher den obskuren und fragenreichen Muster französischer Produktionen folgt.

Eine Patientin beglückte mich einmal mit einem kleinen Text von Rilke:

…und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, […] Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

– Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter

In unseren Leben passieren Dinge in einer kaleidoskopischen Abfolge, gute Dinge wie schlechte. Wir begegnen Menschen, die uns guttun, und Menschen, die uns in die Hölle schicken. Wir laufen ein Stück neben ihnen her, ein Spaziergang im Park des Lebens, und manchmal fühlt es sich an wie Vorsehung, wie die Verheißung eines beginnenden Glücks, die Tür zum Paradies. – Nichts davon hat irgendeine Bedeutung! Hollywood ist eine Illusion; vielleicht deshalb der Begriff « Traumfabrik ». Französische Filme dagegen sind fest im oft tragischen Sein des Lebens verwurzelt. Natürlich nicht alle, aber eben jene sehr französischen.

Manchmal deuten sie Glück an. Manchmal verweisen sie schelmisch auf Hollywood. Nur um dann in buddhistischer Weisheit im Nichts zu enden. Wer Sinn sucht, wird ihn nicht in französischen Filmen finden.

« Das Leben hat keine Sinn! », sagte Muhô, der deutschstämmige Abt eines japanischen Zen-Klosters, vor einigen Jahren lachend bei einem Vortrag in der Urania Berlin, während eine sehr gebildete Dame ihm mit tiefgreifenden Theorien zu widersprechen versuchte.

« Portrait de la jeune fille en feu »


Ein schönes Beispiel für den französischen Film ist Céline Sciammas « Porträt einer jungen Frau in Flammen »: Der Film spielt im 18. Jahrhundert. Héloïse, die Tochter einer Gräfin, soll verheiratet werden; unbekannt, an einen Adligen, den sie nicht kennt und der sie nicht kennt. Jener Adlige möchte jedoch vorher ein Porträt von Héloïse, welche sich jedoch weigert, sich malen zu lassen. Als letzten Versuch gibt die Mutter den Auftrag an die junge Malerin Marianne, welche sie heimlich porträtieren soll.

Ganz zaghaft deutet sich die tiefe Verbindung zwischen Héloïse und Marianne an. Man ahnt die fundamentalen inneren Prozesse, die starken Gefühle beider Frauen, die jedoch kaum in Worte gefasst werden, vielmehr in subtile Bilder. Ein vages Versprechen, von dem man nicht weiß, ob es gehalten wird. Eine Liebesgeschichte, von der man nicht weiß, ob sie gelebt werden darf.

« Portrait d'une Jeune Femme en Feu »

Darf ein Blog-Artikel wie ein französischer Film enden?

Vielleicht doch noch dies: Ich mag französische Filme. Ich mag sie, weil sie die Sinnlosigkeit des Seins so anmutig und bescheiden vor Augen führen und gerade darin eine große Weisheit liegt. Nämliche jene von der Befreiung der Last der Sinnsuche und des oft zwanghaften Verlangens des Egos, den Dingen und dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Sinn ist die Droge des Egos, das in ihm seine Daseinsberechtigung sucht. Statt zu tun, was zu tun ist, hier und jetzt, will es die Welt verbessern, ihr den Sinn aufzwingen, den es gefunden zu haben glaubt.

« Lasst Ideen sterben, nicht Menschen »
– Sir Karl Popper

Französische Filme enttäuschen das Ego bei seiner Sinnsuche. Man schaut auf den Abspann und ist – enttäuscht. Doch plötzlich wird man des melancholischen Friedens der Enttäuschung gewahr. Man begreift, dass eben jenes das wahre Leben ist und es allen Menschen gleich ergeht.

Die Zen-Lehrerin Charlotte Joko Beck schreibt dazu: « Wenn wir aufhören, uns umzusehen und zu suchen, was bleibt dann? Es bleibt das, was schon immer hier in der Mitte des Lebens war. Unter all dem Suchen verbirgt sich Kummer. Es verbirgt sich Unbehagen. Und der Augenblick, in dem wir das erkennen, bedeutet auch die Erkenntnis, dass es nicht um die Suche geht, sondern um den Kummer, das Unbehagen, die die Suche motivieren. Das ist der magische Augenblick, wenn wir erkennen, dass es nicht darum geht, außerhalb unserer selbst zu suchen. Zunächst dämmert es uns nur ein klein wenig. Doch je länger wir leiden, desto klarer wird es uns mit der Zeit: All das, wonach wir suchen, wird uns enttäuschen. Denn es gibt keine vollkommenen Wesen, keine vollkommenen Arbeitsplätze, keine vollkommenen Wohnungen. Und deshalb endet die Suche immer an dem einen Ort, und dieser Ort heißt Enttäuschung. Ein guter Ort. » [1]

Jeglicher hollywoodianische Versuch, dem Leiden ein Happy-End zu verleihen, ist eine Illusion, welche das Ego süchtig aufsaugt, nur um kurz darauf wieder die Sucht zu spüren und sich erneut auf Sinnsuche zu begeben – Sucht und Suche.

Erst die Befreiung von Suche und Sucht ermöglicht die Leichtigkeit des Seins, ermöglicht achtsame Lebensfreude im Hier und Jetzt. Eben deshalb kann Muhô lachend widersprechen: « Nein, das Leben hat keinen Sinn. »

[1] Charlotte Joko Beck (2011). Zen im Alltag. München: Goldmann.