Hinter dem Vorhang

Hinter dem Vorhang

„The thing that is in Room 101 is the worst thing in the world.“

George Orwell, 1984 [1]

„Haben Sie schon einmal Online-Dating ausprobiert?“

Spreche ich meine einsam-depressiven Patienten darauf an, ist meist ein Stöhnen, gefolgt von einem verzweifelten Blick zu den Stuckornamenten der hohen Altbaudecke die Konsequenz.

Flohmarkt statt Louvre

Seitdem ich mich auch einer der zahlreichen Dating-Apps zugewandt habe, ist der hilflose Blick zur Decke mit tiefem Mitgefühl verbunden. Ich kenne seitdem hunderte Sonnenbrillenmodelle und überlege immer wieder, wie man mit 1000-Euro-Handys derart schlecht belichtete und verwackelte Selfies machen kann. Des Deutschen scheinen nur noch wenige Menschen mächtig; deshalb werden erst gar keine Worte gemacht oder gleich englische Brocken hingeworfen. Asiatinnen mit Mandarin als Muttersprache sehe ich die Aneinanderkettung von unzähligen Emojis durchaus nach; zumindest kann ich dann – des Chinesischen nicht mächtig – die Zeichenketten durchaus entziffern.

Doch zurück zu den Stuckornamenten: Ich wische stundenlang und immer wieder nach links. Gelegentlich auch nach rechts, wenn mir ein Profil weniger missfällt; vielleicht bin ich ja zu vorurteilsbeladen, und mir ist durchaus bewusst, dass solche Dating-Profile im Grunde lediglich kleine mehr oder weniger gelungene Kunstwerke sind, die nur einen begrenzten Einblick in die Schaffenskraft des Künstlers oder der Künstlerin dahinter geben. Aber dennoch: Das Unterfangen ist mehr Flohmarktbesuch als Louvre.

„Dein Profil gefällt jemandem!“

Es vergehen Tage, es vergehen Wochen. „Dein Profil gefällt jemandem!“, vermeldet die Apple-Uhr in fröhlichem Gelb. Ob man diese Farbe gewählt hat, weil das die Farbe der Hoffnung ist?

Es ist nicht immer ein gutes Zeichen, wenn ein Flohmarkthändler einem etwas lächelnd vor das Gesicht hält. Doch in diesem konkreten Fall greife ich mit leuchtenden Augen zu. Manga-Zeichner können diesen Blick wunderbar graphisch symbolisieren.

Alex trägt nur eine Brille – keine Sonnenbrille! Und auch wenn sie sehr sparsam mit Worten ist, durchströmt mich ein tiefes Gefühl der Stimmigkeit. Ich kenne dieses Gefühl nur zugut. Wir reden nicht von Glück, und ich weiß inzwischen aus meiner Lebenserfahrung, dass das Gefühl gefährlich ist. Doch ich will nicht vorgreifen. Alex ist schön – und sehr stilvoll gekleidet. Das macht es schwierig, sich dem Gefühl zu entziehen. Das Gehirn findet keine Grund, ihr Profil wegzuwischen. Keinen einzigen!

Der Schlüssel in der Hand

Die Kommunikation mit Alex ist wie eine gegenseitige Operation am offenen Herzen: Kein Smalltalk – es ist ernst. Alex hat Angst. Ich versuche, meine Angst mit meinem gefühlt großen psychologischen Wissen in Schach zu halten. Manchmal hilft auch gegenseitiger Humor. Es ist 30 Jahre her, dass die autistische Schriftstellerin und Psychologin Donna Williams solche Begegnungen mit großer Feinfühligkeit beschrieb [2]. Die enorme Angst, die plötzlich entsteht, vor der man flüchten möchte aber nicht kann.

Man hält einen Schlüssel in der Hand und läuft endlose Flure entlang. Vor einer Tür, die aussieht wie alle anderen, bleibt man plötzlich stehen. Man weiß, dass man den Schlüssel in das Schloss stecken kann und sie sich öffnen wird. Ja, sie wird wirklich aufgehen. Aber das Entsetzen über genau diese Tatsache ist viel zu groß, als dass man es tun würde.

Es ist wie ein Vorhang, den man aufziehen könnte. Man erahnt, dass sich dahinter all das Glück verbirgt, nach welchem man sich gesehnt hat. Aber man weiß auch, wenn auch oft nur unbewusst, dass mit dem unfassbaren Glück auch der tiefste Schmerz in helles Sonnenlicht getaucht wird, man ihn erblickt, ihn nicht mehr ignorieren kann. Also hält man den Schlüssel mit beiden Händen fest umschlossen vor der Brust und freut sich wie ein kleines Kind über die Tatsache, dass man weiß, dass er passt. Man weiß plötzlich, dass man nicht allein ist.

Allein womit? Mit dem eigenen Sosein! Es gibt also andere Menschen, die genauso ticken wie man selbst.

Neurodiversität

Worüber reden wir? Neurodiversität! Der Begriff wurde von der Soziologin Judy Singer (2016) geprägt. Die Gehirne von neurodiversen Menschen funktionieren auf eine andere Art als jene von neurotypischen Menschen. Nicht besser, nicht schlechter, nur anders. Die Schlüssel von neurotypischen Menschen passen in fast alle Schlösser. Jene der neurodiversen leider in sehr wenige. Denn Neurodiversität ist eben genau das: divers und vielfältig! Hochsensible Menschen sind neurodivers, ebenso solche mit ADS oder einer Autismus-Spektrum-Störung. Und vielleicht ist auch alles dasselbe…

Ein kleines Video der britischen National Autistic Society bringt das gut zum Ausdruck:

Alex weiß, dass sie hochsensibel ist. Alex weiß auch, dass sie eine Bindungsstörung hat und dass sie mich gar nicht sehen möchte. Alex weiß nicht, dass sie wahrscheinlich unter einer Autismus-Spektrum-Störung leidet. Sie kann sehr nah und einfühlsam sein; dann wieder sehr kalt und abweisend. Ich sehe ihr das nach mit meinem Schlüssel in den Händen, versuche ihr es aber sanft näherzubringen.

„Dein Profil schreckt auch eher ab, als dass es Menschen anzieht!“, grummelte sie lachend zurück. Und weiter: „Bei dir muss man sich seelisch nackig machen und ich denke nicht, dass das jeder kann oder will.“ Bravo!

Room 101

Von ihrer sensiblen Wahrnehmung fasziniert, schrieb ich neckend zurück: „Und warum hast du mir dann geschrieben?“

„Ich wusste, was auf mich zukommt…“

Genau dies: Wir bleiben vor der Tür stehen, wir gehen nicht an ihr vorbei. Wir stehen vor unserem persönlichen „Room 101“ im Keller des „Ministry of Love“. Orwell! Nicht J.K. Rowling! Mit Harry Potter hat das nichts zu tun!

Es ist der Raum, in welchem wir mit unseren schlimmsten Ängsten konfrontiert würden. Doch im Unterschied zu Orwell, nicht um uns seelisch zu brechen, sondern um uns zu befreien, um den Vorhang wegzuziehen, dem Sonnenlicht zu begegnen, der Welt da draußen und um die Welt der endlosen Flure hinter uns lassen zu können.

Fachlicher Nachtrag

Es fehlen deutschlandweit Kapazitäten, die deutlich zunehmenden Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zu diagnostizieren. Auch ich kann das leider (noch) nicht leisten, weil mir hierzu die Zusatzqualifikation fehlt. Vielleicht ändert sich dies in Zukunft. Gewarnt sei in diesem Zusammenhang vor Selbstzahler-Angeboten von Personen mit unzureichender Qualifikation. ASS-Diagnostik ist eine Kassenleistung!

Weiterhin erlebe ich es sehr oft, dass ASS falsch als Angststörungen diagnostiziert und entsprechend falsch behandelt werden, wodurch sich das Leiden noch vergrößert. Interessant erscheint mir auch der Zusammenhang zwischen Störungen der Geschlechtsidentität und ASS, welcher schon in den 1990er Jahren von Donna Williams beschrieben wurde. Sie vertrat hierzu die Meinung, dass Störungen der Geschlechtsidentität eine Folge von ASS sind und für sich genommen keine Relevanz haben. Wer sich diesbezüglich fachlich austauschen möchte oder Literaturhinweise oder Links hat, ist herzlich eingeladen, mich zu kontaktieren.

[1] George Orwell (1949): Nineteen Eighty-Four. London: Secker & Warburg.

[2] Donna Williams (1994). Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern. Eine Autistin überwindet ihre Angst vor anderen Menschen. Hamburg: Hoffmann und Campe.

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