Kränkung und Verbitterung

Kränkung und Verbitterung

« Wer Trauma hört, denkt erst einmal an Opfer von Gewalt und Kriminalität, an Menschen, die Naturkatastrophen, Krieg oder Terroranschläge überlebt haben. In der von mir geleiteten Ambulanz begegnete ich aber immer häufiger Patienten, die unter den gleichen körperlichen und psychischen Problemen litten wie diese Personen, obwohl sie keine derartigen Ereignisse durchlebt hatten. Sie waren lediglich von ihren Partnern verlassen worden. »

Prof. Dr. Günter H. Seidler
Nervenarzt [1]

 

« Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me. »

Amerikanisches Sprichwort

Wie jedes Leben sind wir Menschen verletzlich. Und zu unseren Verletzlichkeiten gehören nicht nur körperliche Noxen und Tod, sondern wir sind als soziale Wesen in gleicher Weise seelisch sehr verletzbar. Das amerikanische Sprichwort « Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me. » ist am Ende nur ein ungelenker Abwehrversuch dieser psychischen Verletzbarkeit, ist ein hilfloses Pfeifen im Walde.

Psychische Verletzbarkeit

Und so, wie Menschen mit körperlichen Verletzungen in die Arztpraxis kommen, begeben sich Menschen mit psychischen Verletzungen am Ende in die Psychotherapie.

Viele meiner Patient*innen erlebten schwere Kränkungen. Vor diesen Kränkungen waren sie eigentlich psychisch recht gesund. So, wie halt auch Menschen, die plötzlich Opfer eines Unfalls wurden. Psychische Krankheit ist nicht immer etwas, was innerlich entsteht, vielmehr sind es sehr oft äußere Ereignisse, die dazu führen, dass Menschen zu mir in die Praxis kommen.

Je geringfügiger diese Ereignisse erscheinen, umso schlechter erkennen Menschen, was diese Ereignisse mit ihnen gemacht haben. Dies gilt für die Betroffenen in gleicher Weise wie für ihr Umfeld, welches dann oft Unverständnis ob des Leidens und Jammerns äußert.

Wer Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt geworden ist, für denjenigen ist klar, was da passiert ist und dass man auf solche Ereignisse mit starken psychischen Symptomen reagieren darf. Er erfährt auch viel Zuspruch und Unterstützung von seinen Mitmenschen.

Aber in meiner Sprechstunden sitzen auch Menschen, die nichts dergleichen erlebt haben, denen halt nur Dinge passiert sind, die einem im Leben halt so passieren: Sie wurden von ihrem Partner verlassen, ihre Kinder sprechen nicht mehr mit ihnen, sie haben ihren Job verloren. « Nicht schön, aber auch nicht sooo schlimm », könnte man dazu anmerken, was die Mitmenschen dieser Patienten auch eifrig tun.

« Ich weiß auch nicht, warum es mir so schlecht geht, ich nicht darüber hinwegkomme… »

« Ich weiß auch nicht, warum es mir so schlecht geht, ich nicht darüber hinwegkomme », drucksen die Betroffenen dann kläglich in meinem Behandlungssessel.

Doch was ihnen widerfahren ist, erscheint nur auf den ersten Blick harmlos. Es ist keine kleine Schnittwunde, die da versorgt werden muss. Es sind tiefe innere Verletzungen.

Warum ist das so?

Wir Menschen erscheinen als autonome Einzelwesen. Dass dies eine Illusion ist, erkannte schon Siddhartha Gautama Buddha vor über 2500 Jahren. Vielmehr bedeutet das Menschsein Verbundenheit mit allen anderen. Wir existieren als Menschen in einer Art unsichtbarem Gewebe mit unseren Mitmenschen. Unser Wohl und Wehe hängt von uns selbst genauso ab wie von ihnen. Geht es den anderen gut, geht es auch uns gut. Geht es uns gut, geht es den anderen gut. Das gilt im Großen wie im Kleinen.

Erfährt nun dieses unsichtbare Gewebe Verletzungen, eben indem Verbindungen zerschnitten werden, spüren die betroffenen Menschen den Schmerz. Sichtbar ist nur, dass wir nun eben wieder allein sind, keine Arbeit mehr haben, vielleicht Armut erleiden. Das allein schmerzt und ängstigt. Das Eigentliche jedoch bleibt unsichtbar: Die tiefe Verletzung im Gewebe, die Kränkung.

In einem Interview der Zeitschrift GEO äußert der Psychiater Günter H. Seidler:

« Wer Trauma hört, denkt erst einmal an Opfer von Gewalt und Kriminalität, an Menschen, die Naturkatastrophen, Krieg oder Terroranschläge überlebt haben. In der von mir geleiteten Ambulanz begegnete ich aber immer häufiger Patienten, die unter den gleichen körperlichen und psychischen Problemen litten wie diese Personen, obwohl sie keine derartigen Ereignisse durchlebt hatten. Sie waren lediglich von ihren Partnern verlassen worden. » [1]

Ein anderes Beispiel: Die Patientin ist Chefsekretärin, kurz vor der Rente, seit Jahrzehnten im mittelständischen Familienunternehmen. Ohne sie lief nichts, sie hatte viel Verantwortung, bekam aber auch viel Anerkennung. Doch schleichend änderte sich das Klima in der Firma. Das Unternehmen wuchs, die Eigentümerfamilie zog sich zurück, Aufgaben und Verantwortungen wurden mehr, die Anerkennung wurde weniger. Die Patientin fühlte sich zunehmend überfordert und ausgebrannt, ließ sich krankschreiben. – Niemand fragte nach, nicht einmal der Chef, auch nach Wochen nicht. Dann ein formelles Schreiben der Firma, wann sie wieder gedenke arbeiten zu kommen und das sonst Konsequenzen hätte.

Die Patientin entwickelte Symptome, wie man sie von einer Posttraumatischen Belastungsstörung kennt. Sie konnte sich nicht einmal dem Firmengebäude nähern, ohne Angstattacken zu bekommen. Schlaflosigkeit, körperliche Unruhe, Hilflosigkeitserleben, Depressivität, Rückzug.

Was war geschehen? Sie hatte eine tiefe Kränkung erfahren, durch ihre Firma, ihren Chef. Sie erlebte, dass sie als Mensch nicht mehr interessierte, nicht wichtig war. Sie erlebte einen tiefen Fall.

« Die Menschlichkeit ist in der Firma verlorengegangen », äußerte sie resigniert. Und damit hatte sie den zentralen Punkt ihres Leidens getroffen.

« Der Mensch braucht, um […] nicht in Depression zu verfallen, zwischenmenschliche Anerkennung, Zuwendung und Sympathie. Wir benötigen, um Sinn zu erleben, andere Menschen, für die wir Bedeutung haben. Menschen brauchen, um gesund zu bleiben, Bindungen. Das Bedürfnis nach Bedeutung, Wertschätzung und Anerkennung ist also keineswegs nur ein psychologisches Bedürfnis (diesbezügliche Annahmen wären nicht neu), sondern es handelt sich – wie neurobiologische Studien zeigen – um ein biologisches Bedürfnis. »

– Joachim Bauer [2]

Ähnliche Symptome wie die schwer gekränkte Chefsekretärin erleben, wie oben bereits erwähnt, Menschen, die von ihrem Partner verlassen wurden, obwohl sie es selbst nicht wollten. Und je hässlicher die Umstände der Trennung waren, umso größer ist das Leiden.

Besonders schwer leiden oft Partner, die von einem Menschen mit Cluster-B-Persönlichkeitsstruktur oder -störung verlassen wurden. Solche Menschen heben ihre Partner zu Beginn einer Beziehung in den Himmel: « Es ist so ein einzigartiges Glück, dir begegnet zu sein. Ich kann mein Glück kaum fassen… »

Wenn sie ihnen dann aber nach ein, zwei Jahren nicht mehr genügend Befriedigung geben oder ihnen die Beziehung zu anstrengend wird, lassen sie sie abrupt fallen und treten noch hinterher: Abwertungen, Beschimpfungen, blanker Hass.

« Narzissten sind im Grunde nicht zu echter Liebe fähig. Liebe hat auch viel mit Fürsorge, Konstanz und dem Ertragen von Problemen zu tun. Das können die nicht. »

– Claas-Hinrich Lammers [3]

Die Betroffenen wissen plötzlich nicht mehr, wie ihnen geschieht. Dachten sie doch, alles sei gut und wundervoll und sie hätten eine freudvolle und sichere Bindung zu ihrem Partner. Doch statt Liebe erfahren sie nur noch Entwertungen und Ablehnung.

Die Folge ist wieder eine Posttraumatische Belastungsstörung, die eigentlich gar keine ist.

Posttraumatische Verbitterungsstörung

Die Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation der Charité Universitätsmedizin um Prof. Michael Linden entwickelten deshalb ein neues Konzept, nämlich jenes der Posttraumatischen Verbitterungsstörung (Posttraumatic Embitterment Disorder PTED) [4]. Das Erfahren einer tiefen Kränkung ist eben kein harmloses Wehwehchen, sondern hat oft massive Auswirkungen auf die Seele der Betroffenen.

Linden und Kolleg*innen entwickelten auf der Basis ihrer Erkenntnisse Fragebögen und diagnostische Instrumente, um eine PTED bei betroffenen Patient*innen besser diagnostizieren zu können und die Forschung in diesem Bereich weiterzubringen, denn die Kenntnis über diese Störung ist selbst in psychotherapeutischen Kreisen noch unzureichend.

Diagnostische Kriterien

Als diagnostische Kernkriterien definieren Linden und Kolleg*innen:

(1) das Vorliegen eines einmaligen schwerwiegenden negativen Lebensereignisses, in dessen unmittelbarer Folge sich die psychische Störung entwickelt hat.

(2) Der Patient erlebt das kritische Lebensereignis in der Regel als ungerecht oder herabwürdigend.

(3) Wenn das kritische Ereignis angesprochen wird, reagiert der Patient mit Verbitterung und emotionaler Erregung.

(4) Der Patient berichtet wiederholte intrusive Erinnerungen an das Ereignis. Teilweise ist es ihm sogar wichtig, nicht zu vergessen.

(5) Die emotionale Schwingungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt. Der Patient zeigt normalen Affekt, wenn er abgelenkt wird, oder kann beim Gedanken an Rache lächeln. Zusatzsymptome sind,

(6) dass der Patient sich als Opfer und hilflos wahrnimmt und sich nicht in der Lage sieht, das Ereignis oder seine Ursache zu bewältigen.

(7) Der Patient macht sich selbst Vorwürfe, das Ereignis nicht verhindert zu haben oder nicht damit umgehen zu können.

(8) Der Patient meint, dass es ihm „egal“ sei, wie es ihm gehe, und dass er nicht wisse, ob er die Wunde heilen lassen wolle.

(9) Der Patient kann Gedanken an einen Suizid bis hin zu einem erweiterten Suizid äußern.

(10) Die emotionale Grundstimmung ist dysphorisch-aggressiv-depressiv getönt und kann mit einer Depression mit somatischem Syndrom (sog. endogene Depression) verwechselt werden.

(11) Der Patient kann eine Reihe unspezifischer somatischer Beschwerden zeigen, z.B. Schlafstörungen, Appetitverlust oder Schmerzen.

(12) Der Patient berichtet über eine phobische Symptomatik, die eng mit dem Ort oder Urheber des kritischen Ereignisses verbunden ist.

(13) Der Antrieb ist reduziert und wirkt blockiert. Der Patient erlebt sich weniger als antriebsgehemmt, sondern eher im Sinne einer Antriebsverharrung.

(14) Die Symptomatik kann nicht durch eine vorbestehende andere psychische Erkrankung erklärt werden.

 

__

[1] Günter H. Seidler (2016). Der Schmerz nach der Trennung. GEO-Wissen Nr. 58.

[2] Joachim Bauer (2009). Depression – die Krankheit mit dem Mangel an Sinn. Welt Online.

[3] Isabel Michael (2020). Keine echte Liebe. Darum scheitern Beziehungen mit Narzissten. ntv.de

[4] Verbitterung und Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED). Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation (FPR). Charité Universitätsmedizin.