Leben

Graffiti Bahnhof Jungfernheide

Leben

« What if all this… was a little lie… »

Graffiti, Unterführung Bahnhof Jungfernheide

Das Leben ist oft so, wie auf der Fotografie. Ein langer Tunnel, und man schaut auf das Schöne und Hässliche, während man an Papas Hand durch den Tunnel geführt wird, die Liebe, die Blumen und den Müll. Man versteht das alles nicht so richtig. Auch nicht, warum man überhaupt durch den Tunnel gehen muss. Vielleicht nur, um auf der anderen Seite in den Bus zu steigen, von dem man auch nicht weiß, wohin er fahren wird. Man versteht auch nicht die Worte am Anfang des Tunnels, weil man noch nicht lesen kann und schon gar nicht des Englischen mächtig ist. « What if all this was a little lie… », steht dort in weißen Blockbuchstaben auf rotem Grund geschrieben. Ja, was ist, wenn all das nur eine kleine Lüge war?

Maya, Samsara… Und was, wenn nicht? Die Stockschläge des Zenmeisters treffen den Schüler. Ist die Blume real oder nur ein Höhlengemälde? Und wohin wird der Bus fahren? Stimmt das, was der Papa sagt oder hat der unbekannte Graffiti-Künstler recht? Ist es nur eine kleine Lüge? Gewissheiten, gibt es die im Leben? Wann wird uns bewusst, dass wir durch den Tunnel gehen, die Worte nur Worte sind, jene an der Wand und auch jene, die der Papa sagt?

Es gibt nur das Gehen.


Es gibt nur das Gehen. Ein Schritt vor den anderen. Herz, Mensch und Blume. Lüge oder nicht. Und Dinge, die wir nicht verstehen: Verwundene, schwarze Buchstaben, scheinbar acht- und sinnlos an die gelben Fliesen des Tunnels gesprüht. Bedeuten sie etwas? Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen. Dann ignorieren wir es im besten Fall. Oder wir verurteilen es – und sind dann gefangen in unserem Urteil, das unseren Geist einwickelt, wie die Kreuzspinne ihre Beute mit ihren zähen und klebrigen Fäden. Und wenn es doch eine Lüge war? Vielleicht ist das weniger schlimm, als gar nicht wahrgenommen zu haben, was uns da begegnet ist: Die Worte, Herz, Mensch und Blume. Vielleicht weil wir nur zum Bus, zum Zug oder zur S-Bahn wollten, möglichst schnell, und der Tunnel uns eben nur dazu diente, unser Ziel zu erreichen, weil wir erwachsen und nicht mehr an Papas Hand durchs Leben eilen, keine Zeit mehr dafür ist, überhaupt zu sehen, weil das Leben eben aus Tun besteht, aus dem, was als Nächstes kommt, aus dem, was ich noch zu erledigen habe, aus dem, was ich will oder zu wollen glaube, während ich der Vergangenheit gram bin, weil ich nicht bekam, was ich wollte. Zukunft und Vergangenheit lassen den Tunnel in einer Singularität verschwinden, sich in dem schwarzen Loch des Noch-Nicht und Nicht-Mehr zusammenballen. Weder Herz, noch Mensch, noch Blume, sondern nur die Ringbahn, die ich schon einfahren höre, und die mich dorthin bringt, wo ich glaube, hinzumüssen, möglichst schnell, um das nächste Ziel zu erreichen. What if all this was a little lie…

Graffiti Bahnhof Jungfernheide