
09 Juni Verlorene Zwillinge
„Das stärkste Symptom, das ich in meiner eigenen Arbeit beobachte, ist eine tiefe Verwirrung über die eigene Identität. Da es beim Embryo oder Fötus noch kein Identitätsgefühl gibt, das eine Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden ermöglichen würde, weiß der Überlebende in vielen Fällen nicht, wer er ist: der eine oder der andere, der gestorbene oder der überlebende? Man kennt das Gefühl des Lebendigseins nicht wirklich, man hat überlebt, aber man spürt und sieht sich nicht wirklich. Was man sieht, ist immer eine Vermischung zwischen sich und dem anderen, mal mehr dies, mal mehr jenes. Das eigentliche Drama bei der Begegnung mit einem verlorenen Zwilling ist für mich nicht die Geschichte, die sich einst im Mutterleib abgespielt hat – das sind, auch wenn sie überaus schmerzlich und in dieser Lebensphase seelisch absolut nicht zu verarbeiten sind, ganz gewöhnliche Geschichten von leben und sterben… Das eigentliche Drama kommt zum Vorschein, wenn der Überlebende beginnt, sich selbst zu spüren, sich selbst ganz allein, und zu fühlen und zu erkennen, dass er lebt…“
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Ich wuchs mit der Gewissheit auf, ein Einzelkind zu sein. Es sollte ein halbes Leben dauern, bis diese Gewissheit ins Wanken geriet. Mein damaliger Lehrtherapeut schaute mich lange nachdenklich an. Dann sagte er zögernd: „Was ich mich die ganze Zeit frage…“ Und nach einer längeren Pause: „Kann es sein, dass du einen Zwilling hattest?“
„Kann es sein, dass du einen Zwilling hattest?“
Ungläubig blickte ich zurück. Ungläubig und doch gleichzeitig mit einem verwirrenden Gefühl der Bejahung.
Nein, ich hatte keinen Zwilling. Als Einzelkind hat man keinen Zwilling. Man wäre kein Einzelkind gewesen mit einem Zwilling. Und dennoch traf die Frage mitten in die Seele.
Es war der Moment, wo ich davon erfuhr, dass es „verlorene Zwillinge“ gibt. Zwillinge, mit denen man die ersten Tage, Wochen, Monate des Lebens im Mutterleib teilt, mit ihnen spielt, interagiert, eine tiefe emotionale Beziehung aufbaut, auch wenn man erst wenige Zentimeter groß ist. Sie werden jedoch nicht mit einem geboren. Sie sterben vorher, oft unbemerkt, unerkannt. Als hätte es sie nie gegeben.
Sterbendes Mädchen…
Ich hatte meinem Therapeuten von einer sehr frühen Erinnerung erzählt, von der ich nicht sagen konnte, ob sie real, ersonnen oder einer Filmszene entnommen waren: Meine Finger fuhren zärtlich durch die Haare eines sterbenden Mädchens. Die Haare lösten sich, blieben an meinen Händen kleben, zwischen meinen Fingern hängen. Eine Erinnerung, die von tiefem Schmerz und tiefer Liebe geprägt ist. Eine Szene, die mich seit frühester Kindheit immer wieder beschäftigte und die ich schon als kleines Kind nie zuordnen konnte.
Ungläubig also blickte ich. Wie sollte ich einen Zwilling haben? Wie sollte ein nur wenige Zentimeter großer Fötus so tiefe Gefühle habe?
Als ich meiner Mutter von den Überlegungen meines Therapeuten erzählte, antwortete sie mit einem Satz, den ich nicht erwartet hätte: „Die Gynäkologin hat eine Zeit lang gesagt, dass ich Zwillinge bekomme.“
War es also tatsächlich möglich?
Pränatalforschung
In der folgenden Zeit las ich viel über Zwillinge, verlorene Zwillinge und Pränatalforschung. Moderne bildgebende Verfahren hatten in den letzten Jahren dazu geführt, dass man etwas entdeckt hatte, was vorher undenkbar war: Zwillinge beschäftigen sich im Mutterleib miteinander, spielen, haben Bedeutung füreinander. Embryonen fühlen, verhalten sich sozial, bauen Beziehungen auf. Wie unglaublich…
Gleichzeitig erfuhr ich, dass Zwillingsbeziehungen zu den tiefsten menschenmöglichen Verbindungen gehören; eben weil sie so früh beginnen. Mit dem Moment der Zeugung beginnt das gemeinsame Leben, die gemeinsamen Erfahrungen. Selbst die Mutter-Kind-Bindung erreicht niemals jene Tiefe von Zwillingsbeziehungen.
Tiefe Liebe
Überlebende Zwillinge haben also sehr früh eine wunderbare und eine zutiefst schmerzhafte Erfahrung gemacht, die ihr ganzes Leben prägen wird, von der sie aber in der Regel nichts wissen, weil das episodische Gedächtnis erst im zweite bis dritten Lebensjahr beginnt.
Geprägt wird das Leben der überlebenden Zwillinge durch die Suche nach Heilung, durch die Suche nach eben jener tiefen Erfahrung, die sie nicht greifen können und die für Nicht-Zwillinge kaum nachvollziehbar ist.
Gesucht wird in Liebesbeziehungen, auch in Freundschaften. Meist sinnlos und hoffnungslos, weil eben Zwillingsbeziehungen nicht ersetzbar sind.
So schaute mich die Person, bei der ich jenes hoffnungslose Unterfangen vor sieben Jahren beginnen wollte, auch eher verwirrt an, warum ich so hektisch zur Kamera griff, um das obenstehende Foto der beiden Zwillinge einzufangen:
„Machst du das, weil es dich an deine Zwillingsgeschichte erinnert?“, fragte sie wie ein Kind, das arglos versucht, die Schnecke aus ihrem Haus zu ziehen.
Sie konnte die emotionale Ebene nicht teilen, so wie es Nicht-Zwillinge in der Regel nicht können. Sie sehen nicht die emotionale Erfahrung der Zwillinge, sie sehen nur zwei Menschen, die eben gleich aussehen, denken vielleicht noch an die Beziehung zu ihren eigenen Geschwistern. Doch Geschwister sind keine Zwillings-Geschwister. Die Erfahrung ist eine gänzlich andere.
Die Verwaschenheit der Fotografie war nicht beabsichtigt, sondern ist unzureichender Ausrüstung und einem digitalen Zoom geschuldet. Doch mir erscheint, dass sie gerade deshalb ausdrückt, was sie ausdrücken soll: Die Leichtigkeit tiefer Verbundenheit und gleichzeitig Schmerz, der in der Zeit versunken ist. Vergangenheit und Tod.
Pareidolie der Hoffnung
Synchronizitäten wie diese – die Zwillinge auf dem Weg und der Mensch an meiner Seite, den ich als meinen Zwilling empfand – sind selten. Sie wirken bedeutsam. Auch war das Datum amüsant: Der 8.8.18. Und Heike wohnte auch noch in der Hausnummer 8…
Vielleicht glaubte ich, das Schicksal wolle mir sagen, dass doch Hoffnung besteht, dass Heilung möglich ist. Die Beziehung, die da beginnen sollte, fühlte sich an wie eine Zwillingsbeziehung. Aber vielleicht nur, weil ich es mir so sehr wünschte. Pareidolie der Hoffnung.
Heute, sieben Jahre später, wünsche ich es mir immer noch. Auch wenn die Begegnung mit Heike viele Jahre des Schmerzes nach sich zog. Das bedeutungsvolle Datum führte mich auf einen Weg. Doch war es eher der Weg des Kreuzes und der Erkenntnis als jener des Glücks.
Mangel an Lebendigkeit
Gerade lese ich noch einmal das Zitat von Wilfried Nelles: „Man kennt das Gefühl des Lebendigseins nicht wirklich, man hat überlebt, aber man spürt und sieht sich nicht wirklich. Was man sieht, ist immer eine Vermischung zwischen sich und dem anderen, mal mehr dies, mal mehr jenes.“
Und eben jene zwei Dinge, der Mangel an Lebendigkeit und die Vermischung der Identitäten prägten die Beziehung zu Heike. Ich hätte diesen Mangel an Lebendigkeit nie eingestanden, auch wenn es weder Küsse noch Sexualität gab, und ihre Umarmungen sehr vorsichtig und starr wirkten. Vielmehr war ich beglückt, ihr lachendes Gesicht ab und zu mit der Kamera einfangen zu können. Vielleicht beglückt, dass sie (noch) lebte.
Heike mochte diese Fotos nicht, mochte sich so nicht sehen, nicht lachend, nicht leicht, nicht lebendig. Sie mochte sich anders sehen, mag sich anders sehen: Schaue ich mir heute Selfies von ihr im Internet an, dann erkenne ich eine Gemeinsamkeit: Unlebendige Starrheit und Kälte; wie eine Porzellanpuppe auf dem Kaminsims oder die Gemälde einer verstorbenen englischen Gräfin aus längst vergangenen Zeiten. Das war auch schon damals so. Aber ich sah es nicht. Wohl weil mir der Mangel an Lebendigkeit nur allzu vertraut war.
Ich erinnere mich, dass ich zu Star-Trek-Zeiten eine Schwäche für Seven of Nine hatte. Und selbst heute noch zieht mich „dieser tote Blick“, wie es meine beste Freundin nennt, oft noch magisch an. „Oh nein, lass die Finger davon!“, ermahnte sie mich kürzlich, als ich ihr ein Datingprofil-Foto zeigte, welches mich emotional tief berührt hatte.
Das Verneinen des Todes
„Bin ich auch so? Wirke ich auch so starr, kalt und tot?“, fragte ich besorgt. „Nein, du überhaupt nicht!“, beruhigte sie mich. „Aber Heike wirkte doch auch nicht so im realen Leben!“, bohrte ich nach. Erstaunt vernahm ich dann, dass Heike auch im realen Leben so gewirkt habe. Ich hatte sie anders wahrgenommen, eben lachend, wie auf meinen Fotografien, lebendig, fröhlich.
Vielleicht nahm ich sie wahr, wie ich auch meine sterbende Zwillingsschwester wahrgenommen hatte: Ihren Tod verneinend. Denn in meiner frühen Erinnerung des sterbenden Mädchens gab es keinen Tod. Es gab das Sterben, ja. Aber die Erinnerung endete immer in tiefer Liebe, bevor der Tod sich hätte manifestieren können. Sie starb in meiner Erinnerung nie.