Verzauberung

Verfallener Saal - Beelitz Heilstädten

Verzauberung

« In der Realität ist alles geklärt. Ein Bahnhof ist ein Bahnhof, der Briefträger ist einfach ein Briefträger, die Hausmeisterin ist eine Hausmeisterin und der Hund der Nachbarin ist halt ein Hund. Dann erfahren wir, dass von diesem Bahnhof einmal die Transporte losfuhren, die gefangene Juden nach Auschwitz verschleppten und der Bahnhof wird zum Tor der Unterwelt. Der Briefträger war einmal bei der Fremdenlegion und hat viele Menschen umgebracht – ein kalter Hauch umweht ihn jetzt. Die Hausmeisterin kennt jedes Kraut und kann Holundersirup gegen das Fieber machen – die Dimension der Heilerin wird sichtbar. Und der Hund der Nachbarin hat lange Zeit als Drogenhund bei der Polizei gearbeitet, armer Junkie.

Dann kommt ein Tibeter zu Besuch und sagt: Der Bahnhof wurde auf einer Kreuzung von Erdstrahlen und Wasseradern gebaut. Hier schreit die Erde auf. Der Briefträger hat in einem anderen Leben seine Macht als Abt eines Klosters missbraucht. Die Hausmeisterin war die Magd einer reichen Familie und der Hund der Nachbarin war einmal ein Mönch, der arme Bauern bestohlen hat. »

Luisa Francia [1]

In der Realität ist alles geklärt… Ja? Ist es das? Sollte man nicht eher sagen: An der Oberfläche ist alles geklärt? Und je tiefer man schaut, um so mehr sieht man dann? Etwa so, wie in der Forschung: Die Menschen bauten Fernrohre, um die Sterne zu beobachten. Bauten dann Observatorien, bauten Observatorien auf hohen Bergen, bauten das Hubble-Teleskop, bauten das James-Webb… Und mit jedem Blick tiefer in das Weltall wuchsen und änderten sich Wissen und Erfahrung. Das James-Webb-Teleskop kann unglaubliche 13,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit unserer Welt schauen. 

Und warum schauen die meisten Menschen nicht tiefer? 

Weil sie dann verzaubert wären. – Doch schön, nicht wahr?! 

« Verzauberung ertragen wir nur, wenn wir davon halb betrunken taumeln in die Arme von geliebten Personen oder gleich ins Lottoglück segeln. Im Zauberreich tauchen Stimmen auf und wer sie hört, kann schon mal verrückt werden, vor Angst, vor Freude. Noch ertragen wir die Vorstellung nicht, dass all die Menschen, die wir für verrückt halten, vielleicht mit Wirklichkeiten in Berührung gekommen sind, für die sie nicht stark genug waren. Zu hoch geflogen, Flügel verbrannt, abgestürzt. Verzaubert. Jetzt finden sie nicht zurück. », schreibt Luisa Francia. 

Wenn wir richtig hinschauen, begegnen wir dem Leben, werden wir lebendig. Wachsen wir und entwickeln uns. 

Doch Begegnung mit dem Lebendigen macht auch Angst. Wir mögen das Lebendige dann lieber aus zweiter Hand zwischen zwei Buchdeckeln: Harry Potter und…. 

Wie schön, dem Lebendigen zu begegnen! Voldemort, die Dementoren… Wir spüren förmlich die Lebendigkeit, wenn wir beim Lesen Gänsehaut bekommen, tief erschrecken, unsere Aufmerksamkeit gar nicht abwenden können. 

Und wenn man das Buch zuschlägt, findet man eine Mail von seiner Partnerin. Sie macht Schluss, einfach so, per Mail – warum auch nicht? Die eben noch gespürte Lebendigkeit weicht Schmerz, weicht Verzweiflung, weicht dem Chaos. 

Man beschwert sich, kämpft, will alles ungeschehen machen. Doch der eben noch so liebenswerte Mensch ist plötzlich eiskalt, wertet ab, macht herunter: Nicht gut genug, Erwartungen nicht erfüllt… – Restmüll oder Biotonne? 

Lebendigkeit? – Nein, Depression, das Gefühl von Leblosigkeit. 

Voldemort? Dementoren? 

Nein – nur Heike… 

Verzauberung im realen Leben fühlt sich anders an als die Begegnung mit ihr als Lektüre oder auf einem Netflix-Bildschirm. 

Doch ist sie genauso magisch, genauso lebendig, genauso fantastisch. Wir erkennen das nur nicht, weil wir nicht, wie Luisa Francia sagt, « die Schichten hinter den Geschichten » sehen, weil wir blind sind, wenn uns das Magische nicht voretikettiert begegnet.

Die Dementoren des realen Lebens heißen nicht Dementoren. Niemand sagt uns, wer Voldemort ist. Niemand sagt uns, wer die Bösen sind – und wer die Guten. Wir müssen wachsam sein, achtsam sein, um zu sehen, um zu erkennen. 

Magic Reframing

Der Briefträger ist nicht der Briefträger, Heike ist nicht Heike – wenn wir das erkennen, wird die Welt plötzlich bunter, werden wir Helden statt Opfer. 

Die Welt wird plastisch, mehrdimensional, komplexer. – Warum nicht gleich so? 

Weil eine Zunahme an Komplexität Angst macht, unser Bedürfnis nach Kontrolle bedroht. 

Das Magische webt uns ein in das verworrene Gespinst der Welt. Wegweiser verschwinden oder manifestieren sich nur noch symbolisch. Gut und Böse, Richtig und Falsch verschwimmen, wechseln Gestalt und Gesichter. Fragen nehmen zu, Antworten werden seltener.

Kunst spiegelt diese für uns kaum greifbare Welt. Magie spielt mit ihr. Wissenschaft versucht, sie zu domestizieren. 

Was ist richtig, was ist falsch? Nichts davon. « Facetten des Möglichen », lächelt der Weise. 

Wissenschaft und Rationalität können nicht weise jedoch hilfreich sein. Denn beide fragmentieren. Das liegt in ihrer Natur.  

Kunst und Magie sind weise, doch stellen sie mehr Fragen, als dass sie Antworten gäben. 

Chihiro reist ins Zauberland – und begegnet dort « den Schichten hinter den Geschichten » (Francia). Sie begegnet dem normalen Leben, doch die magischen Schichten des normalen Lebens werden sichtbar. Hayao Miyazaki inszeniert das meisterhaft, wirft seine Zuschauer in den magischen Raum der Nondualität [2]. Bald wagt man zu begreifen, dass die Bösen nicht böse und die Guten nicht gut sind, sondern immer Facetten beider Qualitäten in sich tragen. 

La force d’âme

Und Chihiro selbst, die Heldin? Chihiro ist das in diese magische Welt geworfene Ich des Zuschauers. Ein ideales Ich mit den Qualitäten eines inneren Beobachters. Ein egoloses Ich (non-egoic) im Sinne Eckhart Tolles. Was sie als unglaubliche Ressource in sich trägt ist « la force d’âme » – Seelenstärke, Seelenkraft, wenn man es wörtlich und treffender übersetzt, auch wenn die korrekte deutsche Entsprechung « Tapferkeit » wäre. Jedoch verfärbte und missbrauchte die deutsche, militaristische Geschichte den Begriff bis zur Unkenntlichkeit. 

Ohne Seelenstärke ist es kaum möglich, die magische Welt zu überleben. Chihiro überlebt. Ebenso, wie wir überleben würden, wagten wir uns entsprechend gewappnet in das Magische. Doch meist tun wir es nicht, und wenn, dann eben zwischen zwei Buchdeckeln oder auf Netflix. Mit Vorliebe dann auch in eine schwarz-weiße Magie, in der Gut und Böse zumindest noch ansatzweise erkennbar bleiben. 

Die gewöhnliche Sichtweise des Lebens

Die gewöhnliche Sichtweise des Lebens ist weder eine magische noch eine künstlerische. Sie ist eine dem Ameisenstaat nachempfundene (Coelho) und geprägt von verwaltungstechnischen und marktwirtschaftlichen Erfordernissen und Machtstrukturen. 

Wir sind stolz auf unsere Rationalität, und sie bringt durchaus auch Vorteile. 

Aber sie entzaubert das Leben. 

Wir leben in einer Trance der Imperative und Notwendigkeiten. Und ein jeder baut diese Sichtweise der Welt in seinem Kopf nach. Tut er es nicht, wird er als verrückt oder wahnsinnig tituliert. 

Der Zauberer ist tot

« Sich irren dürfen!
Verwirren dürfen!
Unlogisch handeln!
Sich lernend verwandeln!
Der Sehnsucht vertrauen!
Seltenes schaun!
Unbequem werden!
Feind sein der Herden!
Träume auch machen!
Wach sein und lachen!
Fantastischer leben!
Freiheit auch geben! », 

dichtet André Heller « die Forderungen der Zauberer von morgen ». Denn das Lied heißt: « Der Zauberer ist tot ». 

Nun, er lebt – in der Realität nicht geduldet – in der Fiktion. 

Wer ihn nicht duldet, sind wir. Auch wenn wir gerne der Zauberer wären. 

Unlogisch? Verwirrt? – Nun ja, eben… Wie ich sagte… 

Die Zahl möglicher Weltbilder und Sichtweisen der Welt ist schier unendlich. Sie ist überwältigend, überfordernd. Und dann halten wir uns an dem fest, was wir glauben, was wir für die Realität halten und verteidigen es bis aufs Messer. 

Täten wir das nicht, müssten wir zugeben, dass wir nichts wissen – ein unerträglicher Zustand für unser Ego.

Also frönen wir narzisstischer Überheblichkeit und sterben den verwaltungstechnischen Beamtentod, der zumindest eine mildere Variante des tapferen Soldatentodes darstellt. 

Erzählten wir, dass wir in vergangenen Leben schwarze Magie betrieben, Heike sich nur deshalb so eklig uns gegenüber benimmt, weil sie Opfer unserer böser Rituale wurde und deshalb keinen Frieden mit uns schließen kann, riskierten wir zwar keine Zwangseinweisung in die geschlossene Psychiatrie, doch würde es unserem Ansehen sehr schaden, verträten wir diese Auffassung in ernsthafter Weise. 

Als Künstler schadete uns das nicht. Als Psychotherapeuten ebenso wenig, sieht man uns doch sowieso schon sehr in Psychiatrienähe – nicht als Ärzte, sondern als Patienten. Vielleicht berechtigt, weil auch die Psychiatrie der Kunst und der Magie sehr nahe steht. Oder, wie der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer sagt: Die einzigen beiden Berufsgruppen, die frei sind. 

Diese Freiheit sollen auch Menschen lernen, die in die Therapie kommen. 

« Sich irren dürfen, verwirren dürfen, unlogisch handeln… »

Die Kunst der Psychotherapie besteht darin, Patient*innen trotzdem die Sicherheit zu geben, in der Therapie niemals Unkontrollierbares zu erleben. Psychotherapie ist in diesem Sinne Magie mit Sicherheitsleine und Auffangnetz. 

Rationalität wird zum Instrument und verliert ihre Eigenschaft als Fessel, die sich in dem Bedürfnis nach Sicherheit ausdrückt. Wir werden offen für die magische Mehrdimensionalität und Unsicherheit des Lebens. Wir lernen zu spüren, zu erfahren, zu leben. Wir werden ganze Menschen und verlieren des Ameisenhafte unseres Seins. 

Im Auge des Wirbelsturms

« Security is mostly a superstition. It does not exist in nature, nor do the children of men as a whole experience it. Avoiding danger is no safer in the long run than outright exposure. Life is either a daring adventure, or nothing. »

– Helen Keller

Die Zen-Lehrerin Charlotte Yoko Beck beschreibt die Begegnung mit dem Magischen in der Metapher des Lebens als Wirbelsturm: 

« Wenn wir leben, versuchen wir, uns zu schützen. Dieser Verstand, der denkt, Pläne macht, sich aufregt, von Emotionen geschüttelt wird, andere Menschen tadelt und sich als Opfer fühlt, ist wie der Pilot im [Motor-]Flugzeug, der verzweifelt versucht, seinen Weg aus dem Wirbelsturm zu finden. In solch einem Leben voller Anspannung und Beengung brauchen wir alle Kräfte, um zu überleben. Unsere ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf uns selbst und unser Armaturenbrett. Bei dem Versuch, uns selbst zu retten, bemerken wir nicht, was rings um uns geschieht. Aber der Mann im Segelflugzeug kann alles genießen – die Blitze, den warmen Regen, das Heulen des Sturms. Er kann etwas Wunderbares erleben. Und was passiert zuletzt? Natürlich sterben beide. Aber wer von beiden kennt den Sinn des Lebens? Wer hat die Freude erfahren? Wie der erste Pilot verbringen wir unser Leben mit dem Versuch, uns selbst zu schützen. Je mehr wir darauf erpicht sind, uns vor den Sturmböen unserer augenblicklichen Lebenssituation zu schützen, desto mehr Stress haben wir und umso elender fühlen wir uns, desto weniger erleben wir unser Leben wirklich. Wir bekommen kaum etwas von der Landschaft mit, wenn wir nur auf unser Armaturenbrett starren, das uns früher oder später sowieso im Stich lassen wird. » [3]

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Zur rationalen Einordnung dieses Blog-Artikels: « Verzauberung » setzt hypnotherapie-basiertes Reframing ein, spielt mit buddhistischen Erkenntnissen und integriert die implizite Weisheit von Künstler*innen. 

[1] Luisa Francia (2005). Hexenbesen Zauberkraut. Die Grundlagen der Magie. München: nymphenburger.

[2] Hayao Miyazaki  [Drehbuch und Regie] (2001). Chihiros Reise ins Zauberland. Kajino-chô, Koganei, Präfektur Tokio: Studio Ghibli. 

[3] Charlotte Yoko Beck (1995). Einfach Zen. München: Knaur MensSana.