Die Liebe und ihr Henker

DeepDream Fantasy

Die Liebe und ihr Henker

Thelma: « Ich werde zur Sache kommen. Was ich eigentlich fragen will, ist, welche Gefühle hast du eigentlich mir gegenüber? »

Matthew: « Ich habe in den letzten Jahren jeden Tag an dich gedacht! Du liegst mir sehr am Herzen. Ich möchte wissen, wie es dir in der ganzen Zeit ergangen ist. Am liebsten würde ich mich alle paar Monate mit dir treffen, um alles Vergangene nachzuholen. Ich möchte irgendwie in dein Leben mit einbezogen werden. »

Thelma: « Und warum hast du dann die ganzen Jahre geschwiegen? »

Matthew: « Manchmal kann Schweigen mehr ausdrücken als alles andere. »

Thelma: « Das scheint mir wieder eins von deinen Zen-Rätseln zu sein, die ich nie verstanden habe.»

Matthew: « Immer wenn ich versuchte, mit dir zu sprechen, wurde alles nur noch schlimmer. Du hast immer noch mehr von mir verlangt, bis ich an den Punkt kam, wo ich dir einfach nichts mehr geben konnte. Du hast mich jeden Tag dutzende Male angerufen. Immer wieder bist du im Wartezimmer meiner Praxis aufgetaucht. Dann, nach deinem gescheiterten Selbstmordversuch, wusste ich – und mein Therapeut stimmte mir zu –, dass es das Beste wäre, die Beziehung ganz abzubrechen. »

Irvin D. Yalom
Dialog aus « Die Liebe und ihr Henker »

Yalom erzählt in der Titelgeschichte seines gleichnamigen Buches etwas, was mir nur allzu gut bekannt ist. Das Festhalten an einen Menschen, der sich nach einer tiefen Beziehung ganz plötzlich verabschiedet. Ich kann also sehr gut nachempfinden, was Thelma empfindet. Genauso, wie ich Yaloms Skepsis, die er in der Geschichte äußert, nachempfinden kann. Er schreibt: « Ich arbeite nicht gerne mit Patienten, die verliebt sind. Vielleicht ist es Neid, auch ich sehne mich nach dem Zauber der Liebe. Vielleicht ist es die Tatsache, dass Liebe und Psychotherapie im Grunde unvereinbar sind. Ein guter Therapeut kämpft gegen die Dunkelheit und sucht Erleuchtung, während die romantische Liebe im Mysterium Nahrung findet und bei näherer Prüfung in sich zusammenfällt. Ich hasse es, der Henker der Liebe zu sein. »

Rationalität und Mysterium

Die Geschichte begibt sich in ein Spannungsfeld, in der Rationalität und Mysterium aufeinandertreffen. Auf den ersten Blick erscheint beides unvereinbar. Und wenn man im Mysterium gefangen ist, sehnt man sich nach dem sicheren Hafen der Rationalität. Yaloms therapeutischer Ansatz ist wunderbar und sehr weise. Aber Yalom fühlt sich mit dem Ausgang der Geschichte sichtlich unwohl. Denn was passiert ist, widerspricht seiner Auffassung, widerspricht der Rationalität. 

Für mich stellt sich daraus eine Frage, die durchaus quälend sein kann: Ist es besser, der Rationalität zu folgen oder dem Mysterium und damit dem Leiden Raum zu geben? Aus therapeutischer Sicht würde ich sofort Yalom zustimmen. Denn es geht ja in der Therapie darum, Leiden zu lindern.

Doch ich selbst bin Thelma, und in meiner Arbeit bin ich schon so vielen Thelmas begegnet. Oft mit den gleichen ratlosen Gefühlen, wie Yalom sie beschreibt. Auch wenn ich Thelmas Leiden nicht wie Yalom als ein Problem des Verliebtseins bezeichnen würde, sondern eher als ein immens starkes Gefühl der Bindung, dessen Irrationalität sich die meisten Betroffenen durchaus sehr bewusst sind und sich dennoch nicht davon befreien möchten. So, wie sich auch Thelma den verzweifelten Interventionen des Therapeuten erfolgreich widersetzt.

Rationalität hat in jedem Fall nie funktioniert. Yaloms Erlebnis ist also prototypisch. 

Die Fassungs- und Hilflosigkeit des Rationalen im Angesicht des Mysteriums beschreibt auch Sartre in seiner Kurzgeschichte « Das Zimmer » (1939): Über die große Liebe des jungen Paares Ève und Pierre hat sich ein düsterer Schleier gelegt. Pierre ist offenbar an Schizophrenie erkrankt, verlässt sein verhängtes, schwarzes Zimmer nicht mehr, lebt in Furcht vor fliegenden Statuen, die ihn bedrohen, nennt Ève nur nach Agathe und phantasiert von einer gemeinsamen Vergangenheit in Hamburg, die es nie gegeben hat. Zur Verzweiflung ihrer Eltern hält Ève an ihrer Liebe fest, begleitet Pierre durch die dunklen Abgründe der Krankheit, obwohl sie leidet, ja sogar Angst vor ihm hat. 

« Agathe, sage, ich möchte so gerne Vertrauen zu dir haben. » Ève schloss die Augen, und ihre Brust hob sich: ‚ich darf nichts antworten, sonst wird er misstrauisch und wird nichts mehr sagen.‘ Pierre hatte ihre Hand losgelassen: « Ich habe dich sehr gern, Agathe », sagte er.

Eine tiefe Veränderung war um sie [Ève] herum vor sich gegangen. Das Licht war gealtert, grau geworden: es war dumpf geworden wie das Wasser in einer Blumenvase, wenn man es seit dem Vortage nicht erneuert hatte. In diesem kalten Licht entdeckt Ève auf den Gegenständen eine Melancholie, die sie seit langem schon vergessen hatte: die eines endeten Herbstnachmittages. Zögernd, beinah furchtsam, sah sie um sich, das war alles so weit: in dem Zimmer gab es weder Tag noch Nacht, weder die Jahreszeit noch Traurigkeit. »

– Jean-Paul Sartre, Das Zimmer

Was Ève tut, erscheint irrational. Aus der Sicht ihrer Eltern, die sich ein neues Leben für ihre Tochter wünschen. Aus der Sicht des Psychiaters Franchot, der Pierre in seiner Klinik unterbringen möchte. Doch Ève hält an Pierre fest, obwohl sie weiß, dass es keine Heilung geben wird. 

Sartre lässt das so stehen. Offenbar weiß er sehr gut um die Natur des Mysteriums. Yalom fällt Gleiches sehr schwer. Er versucht es, aber seine Unzufriedenheit durchzieht die ganze Geschichte von Thelma, kommt an zahlreichen Stellen zum Ausdruck. 

Ich gehe davon aus, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, als dem Mysterium Raum zu geben, es zuzulassen, das Leiden zuzulassen – und es bestenfalls therapeutisch zu begleiten, ihm im Rationalen Halt zu geben. So, wie es ja auch Yalom letztendlich tat. Auch finde ich Gunther Schmidts Ansatz wunderbar: Patient*innen demütig und staunend in ihrem Erleben zu begleiten, ihnen zu helfen zu erkunden. Und Interventionen nur anzubieten, niemals zu glauben, dass man es besser wisse. 

Aus spiritueller Sicht würde ich sagen, dass das Mysterium und damit auch das Leiden für eben jenen Menschen, dem es begegnet einen Sinn hat, ihn auf einen Weg führt, den es zu entdecken und zu erkunden gilt. 

« Das Leben hat keinen Sinn! » – Muhô

Ich höre den Einspruch des Zen-Meisters Muhô, seine Worte auf einem Vortrag in der Urania Berlin vor einigen Jahren. « Das Leben hat keinen Sinn! », sagte er heiter ins frustriert schauende spirituelle Publikum schmunzelnd. 

Vielleicht hat es den in der Tat nicht. Doch vielleicht sind wir Menschen es, die ihm einen Sinn geben, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht kreieren wir unsere eigenen Kunstwerke aus der Sinnlosigkeit des Seins, ähnlich wie die neuronalen Netzwerke von Googles KI DeepDream ihre visuellen Visionen aus Bildern weben, mit denen man sie füttert. Und begegnet dann der Mensch den Visionen von DeepDream, ist er erstaunt, was die Maschine ihm da zeigt. Als könne sie Gedanken lesen. Und wir sind wieder bei der Frage, ob KI ein Bewusstsein haben kann. 

Kunst und Mysterium

Kunst ist nicht sinnlos, sie ist essentiel und wichtig für unser Leben. Ich würde sogar soweit gehen, das Mysterium, selbst jenes, welches Leiden bringt, als Kunst zu bezeichnen. Als Kunst, mit der man manchmal bedacht und achtsam umgehen muss, um nicht an ihr zugrunde zu gehen; sie im Rationalen einzubetten. Aber als eine Inspiration, ohne die ich nicht leben wollen würde. 

« Die Kunst selbst ermöglicht erst das Leben. Der Mensch ist erst dann wirklich lebendig, wenn er versteht, dass er ein künstlerisches Wesen ist. »

– Joseph Beuys

 

Das Titelbild dieses Artikels ist eine Kreation von DeepDream: Eine verschmolzene Illustration seines Inhalts. Eine Synthese aus Yaloms Buch und Geschichte, meinem Mysterium und DeepDreams Sichtweise und Interpretation.