Gnade

Fensterblick Galerie Peter Kurgan

Gnade

« Was ist also das Höchste, was der Mensch in der Übung zu erreichen vermag », fragte ich des öfteren östliche Meister.

Die Antwort war immer:

« Die Bereitschaft, sich vom Sein greifen zu lassen.»

Freilich, aus dieser Verpflichtung, das Seinige dazu zu tun, sich für den Einbruch des Göttlichen zu bereiten, ist der Mensch niemals entlassen!

Karlfried Graf Dürckheim [1]

 

« Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich immer genau dann auf ein Motiv stoße, wenn Gott meint, dass jetzt der richtige Moment ist, auf den Auslöser zu drücken. »

Ansel Adams
Fotograf

Von der Unmöglichkeit, das Glück verfügbar zu machen

Menschen, die in meine Praxis kommen, sind vor allem eines: Sie sind unglücklich.

Sie sind unglücklich mit dem, was ist. Sie haben Ängste, die sie nicht loswerden, sie wurden von ihrem Partner betrogen oder verlassen, ihre Kinder sprechen nicht mehr mit ihnen, oder sie werden gemobbt, von ihrer Chefin nicht wertgeschätzt. Die Anzahl der im Leben möglichen Frustrationen ist schier unbegrenzt.

Und: Bevor sie in meine Praxis kommen, haben diese Menschen schon extrem viel versucht, um wieder glücklich zu werden. Deshalb ist Depression eine so häufige Diagnose. Wenn alle Versuche, wieder glücklich zu werden, gescheitert sind, führt die empfundene Hilflosigkeit zwangsweise in die Depression. Es war Martin Seligman (University of Pennsylvania), der bereits 1967 das Konzept der « erlernten Hilflosigkeit » erarbeitete: Am Ende versuchen wir nichts mehr, weil alles gescheitert ist.

Doch wann sind wir glücklich?

Wer behauptet, glücklich zu sein, hat sich entweder frisch verliebt, seinen Traumjob gefunden oder im Lotto gewonnen.

Liegen diese Ereignisse schon ein, zwei Jahre zurück, beginnt auch das Glück zu schwinden. Versuchen wir dann, uns wieder glücklich zu machen, folgen Unglücklichsein oder Sucht als unausweichliche Konsequenz.

« Wir laufen immer gegen die Rolltreppe nach unten. Bleiben wir stehen, bewegen wir uns rückwärts. » Hartmut Rosa

Soziologisch hat sich Hartmut Rosa diesem Phänomen sehr schön aber auch sehr kompliziert in seinem Buch « Unverfügbarkeit » gewidmet [2]. Er schreibt:

« Wir sind strukturell (von außen) dazu gezwungen und werden kulturell (von innen) dazu getrieben, die Welt zum Aggressionspunkt zu machen; sie erscheint uns als das, was es zu wissen, zu erschließen, zu erreichen, anzueignen, zu beherrschen und zu kontrollieren gilt.

Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung bedarf, so lautet meine Definition einer modernen Gesellschaft.

Unser Leben wird besser, wenn es uns gelingt, (mehr) Welt in Reichweite zu bringen, so lautet das unausgesprochene, aber im Handeln unablässig reiterierte und reifizierte Mantra des modernen Lebens. Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite größer wird.

Wir laufen immer gegen die Rolltreppe nach unten. Bleiben wir stehen, bewegen wir uns rückwärts. Nur wenn wir vorangehen, halten wir zumindest unsere Position. »

Dürckheims zitierte Worte entstammen einem andere Kulturkreis. Der vom Buddhismus geprägte Osten, hat sich nie der Machbarkeitsillusion hingegeben. Und das ist sehr weise.

Glück ist nicht machbar. Glück kann auch nie dauerhaft sein. Ein Stück von unserem Lieblingskuchen ist wundervoll. Zwei Stück vielleicht auch noch. Aber spätestens nach dem halben Blech stellt sich Ekel ein. Isst man weiter, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Ekel über Monate erhalten bleibt.

Sich zu verlieben ist ein großes Glück. Und es ist ein gutes Beispiel dafür, was Hartmut Rosa als Unverfügbarkeit bezeichnet. Sich zu verlieben ist Gnade. Wir haben keinen Einfluss darauf, ob es passiert oder nicht.

Wir können versuchen, es zu erzwingen. So, wie wir im Westen ständig versuchen, etwas zu erzwingen. Viele verbringen Stunden mit Online-Dating, treffen potentielle Partner*innen – und sind enttäuscht.

Ich zitiere noch einmal die Zen-Lehrerin Charlotte Joko Beck [3], weil diese ihre Aussage so zentral ist:

« All das, wonach wir suchen, wird uns enttäuschen. Denn es gibt keine vollkommenen Wesen, keine vollkommenen Arbeitsplätze, keine vollkommenen Wohnungen. Und deshalb endet die Suche immer an dem einen Ort, und dieser Ort heißt Enttäuschung. Ein guter Ort. »

Innerer Frieden

« Ein guter Ort » – das mag sarkastisch klingen. Doch Beck möchte damit nur sagen, dass es keinen Sinn macht, Glück verfügbar machen zu wollen. Versteht man dies, kann Frieden einkehren. Ein guter Ort.

Kann ich annehmen, was ist, glaube ich nicht mehr, die Dinge müssten anders sein, als sie sind, dann haben (erlernte) Hilflosigkeit und Depression keine Chance mehr.

Und dennoch gibt es die Momente der Gnade, wenn es uns zuteil wird, Glück zu erfahren. Diese Momente sind nicht kontrollierbar, eben unverfügbar.

Üben des Übens wegen

Unsere einzige Einflussmöglichkeit darauf ist lediglich, eben vorbereitet zu sein. Und dieses Vorbereitetsein meint keine Ressourcenfixierung im Sinne Rosas, kein materielles Vorsorgen, sondern nur das Üben des Übens wegen.

Das ist für westlich geprägte Menschen oft unerträglich: Für etwas zu üben, Zeit in etwas zu investieren, was alleinig Selbstzweck sein sollte. Ja, welches sogar sinnlos ist, wenn man es der Erleuchtung wegen tut.

Und überhaupt: Wie sieht dieses Üben aus?

Vor allem lernen: Wissen aneignen. Über die Natur unseres Geistes. Lernen, achtsam zu sein, bewusst zu sein. Lernen, mitfühlend zu sein. Lernen, erfahrene Gnade zu nutzen, sie nicht zu zerstören, sie behutsam und respektvoll zu behandeln.

Es wird deutlich, dass dieses Üben vielfältig ist. Achtsamkeitsmeditation stärkt nicht das Mitgefühl, so wie Kniebeugen nicht den Bizeps trainieren. Ja, sie kann sogar das Mitgefühl reduzieren, wie eine neuere Studie zeigt.

Das Üben besteht auch darin, zu begreifen, wie unser Geist oft auf unheilsame Weise funktioniert, wir in Samsara gefangen sind. Matthieu Ricard beschreibt dies als Sucht nach den Ursachen des Leidens.

Ein Beispiel: Oft sitzen junge Menschen bei mir in der Therapie. Sie hatten sich verliebt, waren glücklich, hatten die Gnade des Glücks erfahren. Doch mit der Zeit schwand das Glück, schwand die Faszination für den Partner. Konflikte traten auf. Beide waren genervt voneinander, und es wurde über Trennung geredet.

Ich spüre dann die Erleichterung bei diesen Menschen, wenn ich ihnen sage, dass das, was ihnen geschah, normal ist, es allen Menschen so geht. Doch dass das Nachlassen des Verliebtseins, das Auftreten von Problemen kein Grund für eine Trennung sind.

Sie sind erleichtert, denn sie möchten sich eigentlich nicht trennen. Oft unbewusst spüren sie, dass sie Gnade erfahren haben und diese Gnade nicht wegwerfen sollten.

Nun mag es so klingen, als könnten wir das Glück doch irgendwie verfügbar machen. Nein! Das einzige, was wir können, ist durch intensives Üben und Lernen Bedingungen zu schaffen, Wahrscheinlichkeiten zu erhöhen, wie es bereits die Bibel mit dem Gleichnis vom Sämann beschreibt (Markus 4:3-8).

Dieses Paradoxon des Übens als Selbstzweck, ist für das Ego schwer zu ertragen. Wir sind dem Schicksal ausgeliefert, selbst wenn wir üben. Und dennoch sollten wir üben.

Gnade allerdings, erfahren wir auch unverdient:

Der Vater feiert ein großes Fest für den verlorenen Sohn, der ihn doch eigentlich schwer enttäuscht hatte (Lukas 15:11-22).

Ja, vielleicht ist gerade dies die Natur der Gnade, dass sie eben unverdient ist.

Was wir aus der erfahrenen Gnade machen, das liegt in unserer Hand. Mehr ist uns nicht gegeben.

[1] Karlfried Graf Dürckheim (2003). Hara. Die Erdmitte des Menschen. München: Otto Wilhelm Barth Verlag.

[2] Hartmut Rosa (2020). Unverfügbarkeit. Berlin: Suhrkamp.

[3] Charlotte Joko Beck (2011). Zen im Alltag. München: Goldmann.

Foto: Lieben Dank an Peter Kurgan für die Fotografiererlaubnis in seinem Atelier und das interessante Gespräch über seine Kunst und seine Inspirationen.

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