26 Mai Spiegelkämpfer
Das Böse ist keine positive Wesenheit, sondern das Fehlen einer Vollkommenheit, die vorhanden sein sollte. Die Sünde als solche ist ihrem Wesen nach langweilig, weil sie das Fehlen von etwas darstellt, dass unseren Willen und unseren Geist ansprechen könnte. Was die Menschen zu bösen Handlungen hinzieht, ist nicht das Böse in ihnen, sondern das darin steckende Gute, das sie mit einer verzerrten Perspektive unter einem falschen Aspekt sehen.
Thomas Merton [1]
–
Beim Abendessen ist er plötzlich da – der Vogel. Aufgeplustert sitzt er vor der Fensterscheibe. Direkt mir gegenüber, starrt mich an. Wenn Vögel auf der Terrasse sitzen, schauen sie normalerweise in die Landschaft, nicht ins Zimmer. Dieser aber starrt ins Zimmer. Mir ins Gesicht. „Das muss Liebe sein!“, scherzt meine beste Freundin. Denn der Vogel ist hartnäckig. Auch wenn er von Zeit zu Zeit für ein paar Minuten wegfliegt, kommt er stets wieder: Gleiche Stelle, gleicher Blick.
Ich scherze zurück: „Vielleicht will er in seinem nächsten Leben das Haus kaufen.“
Am nächsten Morgen wartet der Vogel bereits auf mich.
Meine Großmutter hatte immer ein Zwiegespräch mit einer Amsel, die sie für ihre verstorbene Mutter hielt. – Meine Mutter lebt noch. Auch glaube ich nicht, dass Menschen als Vögel reinkarnieren.
Ich lese in einem Buch, und der Vogel sitzt. Beharrlich. Was will er?
Plötzlich fängt er tschilpend an, gegen die Scheibe zu fliegen. Etwas, was man vielleicht im Internet nachlesen kann. Der Artikel des NABU ist erhellend:
Der Vogel meint gar nicht mich, und schon gar nicht interessiert er sich für die Immobilie. Er interessiert sich nur für sein Spiegelbild. Narzisst, könnte man meinen. Doch erkennt er sich gar nicht, sieht eher einen Konkurrenten – deshalb die Angriffsflüge gegen die Scheiben. Er ist ein Spiegelkämpfer.
Der Kampf mit sich selbst
Die Begegnung mit dem Vogel ist erhellend. Und der Begriff Spiegelkämpfer löst eine Kaskade von Assoziationen in mir aus.
Bin ich nicht auch ein Spiegelkämpfer? Vier Jahre nach einem unfreiwilligen Beziehungsende grüble ich immer noch ob der Ungerechtigkeit, die mir widerfuhr, versuche zu greifen, was nicht zu greifen ist. Vier Jahre!
Tag 4, der Vogel sitzt immer noch vor dem Fenster. Starrt, tschilpt, begibt sich in Angriffsflüge gegen die Scheibe. Ein Vogelleben ist kürzer als ein Menschenleben. Und der NABU schreibt, dass der Vogel auch nach Wochen noch da sein kann.
Man solle etwas vor das Fenster kleben, wenn man ihn loswerden will.
Wer klebt mir etwas vor den Bildschirm, wenn ich aus den sozial-medialen Äußerungen Heikes eine Lösung für mein Problem erhoffe?
Ob der Vogel auch weiß, dass es sinnlos ist, was er da tut?
Vielleicht ist es mein Privileg als Mensch, die Sinnlosigkeit meines Tuns zumindest zu verstehen. Und natürlich: Ich kann mir etwas vor den Bildschirm kleben. Oder zumindest die einschlägigen Seiten im Internet nicht aufrufen – verhaltenstherapeutisch schlicht Stimuluskontrolle genannt. Wäre da nicht die Dopamin-Schleife. Mein Gehirn kämpft mit sich selbst – Spiegelkämpfer.
Zumindest schaffe ich es, nicht Heikes Newsletter, der „tiefe Einblicke“ in ihr „Privatleben“ verspricht, zu abonnieren. Ein guter Schritt. Patienten würde ich dafür loben. Mich lobe ich dafür ebenfalls.
Der Kampf gegen Rechts
Denke ich über die erlebte Ungerechtigkeit nach, ist der Gedanke über das Böse immer in Reichweite. Heikes Mutter – sie starb übrigens vor ein paar Jahren und könnte, ginge es nach meiner Großmutter, durchaus oben genannter Vogel sein – soll einmal über sie gesagt haben, sie wäre der Teufel. Warum sagt man so etwas über sein Kind? Ist da etwas dran?
Anderseits, auch andere Menschen werden ja dämonisiert. Ich denke da an prominente Vertreter der Neuen Rechten.
Darf ich sagen, dass ich sie oft genauso nett und intelligent in ihrem Auftreten finde wie Heike? Gar nicht so böse und dunkel, wie sie medial dargestellt werden? Übrigens so böse und dunkel, wie ich selbst Heike oft darstelle.
„Bin ich naiv, das Böse nicht zu erkennen, wenn ich Heike und Höcke nett finde?“, frage ich meine beste Freundin, während ich freudvoll über die gelungene Alliteration sinniere.
Ein vehementes Augenverdrehen und langgezogenes Ja lassen nicht lange auf sich warten.
Hitler fand ich übrigens nie nett, auch wenn er Vegetarier war. Eher furchteinflößend in seinen martialischen Auftritten und unsympathisch in seinen Zielen. Irgendwo hat die Freude an Alliterationen ihre Grenze. Auch wenn jene – „Heike, Höcke und Hitler“ – phonetisch etwas gehabt hätte.
Heute brüllen eher Anhänger des Islam in ähnlicher Weise, wie es Hitler tat: Hamburg, 24. April 2024. Man wünscht sich nicht mehr das Tausendjährige Reich, man wünscht sich ein Kalifat. Menschen habe immer Wünsche. Das Individuum möge vor diesen bewahrt bleiben.
In Hamburg möchte ich nicht leben. Ich habe schlechte Erfahrungen mit Hamburg gemacht. Hamburg, Heike… Und schon wieder möchte ich die Alliteration fortsetzen, denke an Heikes Beruf und schaudere schon bei der ersten Silbe vor dem Verfassungsschutz. Nein, genug, ich bin nicht die BILD – genug der Offenbarungen. Trotzdem nie wieder Hamburg! Aber wir müssen ja gegen Rechts kämpfen. Die Gefahr kommt grundsätzlich von Rechts. Nein, im Straßenverkehr eher von Links; Rechts hat ja immer Vorfahrt, also muss man Links achtsam sein. Darf man das sagen? Es steht jedenfalls so in der Straßenverkehrsordnung.
Ich habe im Osten die Grundschule besucht. Ein Mitschüler imitierte gerne Hitler, was ihm gut gelang. Es fehlte nur der Bart. Ärger bekam er allerdings für einen ZDF-Aufkleber auf seinem Schulranzen. Das wäre heute sicher umgekehrt.
Und gerade denke ich amüsiert, dass mein Text nur etwas für Menschen ist und ChatGPT beim Scannen meiner Seite komische Schlussfolgerungen aus meinen Worten ziehen dürfte. Künstliche Intelligenz ist ein begabtes Kind, mehr nicht.
Gibt es das Böse?
Ich will nicht ausschließen, dass ich so naiv bin, das Böse nicht zu erkennen, und habe diese These ja bereits in einem anderen Blog-Artikel aufgestellt.
Auch steht es ja in der Bibel, dass die Existenz Satans Realität ist. Zumindest predigt dies Joyce Meyer. Und Muslime fürchten den Schaitan offensichtlich ebenfalls enorm. Sonst würden sie ja sicher nicht so martialisch brüllen und ihre Frauen angstvoll verhüllen. Hamburg, siehe oben.
Andererseits, die Frauen mögen das ja vielleicht: Khola Maryam Hübsch verhüllt bei „hart aber fair“ in der ARD (29.04.2024). Nein, nicht „hübsch verhüllt“! Ich achte auf meine Rechtschreibung. Sie heißt Hübsch und trug ein Kopftuch. Sie sprach ganz begeistert und friedlich vom Kalifat. So, als wäre das etwas Wunderbares. Und ich glaube ihr das sogar. Sie sprach so friedvoll wie Heike. Oder Höcke.
Jedoch: Auch Heike konnte ganz böse ausrasten. Verbal. Und mit Dingen schmeißen. Zum Beispiel mir einen Schuh an den Kopf – natürlich auch nur verbal.
Vielleicht ist die Art der Äußerung – sanft oder brutal – kein guter Ratgeber für die Einordnung in Gut und Böse. Erinnert sei an Rotkäppchen, die Großmutter und den Wolf. Oder: Vielleicht darf man Menschen gar nicht in Gut und Böse einteilen.
Dann denke ich an Alice Miller, die berühmte Schweizer Psychoanalytikern und Kinderrechtlerin. Großartig und inspirierend erschienen mir ihre Bücher in meiner Jugend. Heute löst ihr Name eher Beklemmungen in mir aus. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Der eine ist ein Film: „Wer hat Angst vor Alice Miller?“ Eine Dokumentation die aufzeigt, dass sie anders redete, als sie lebte. Ihr Sohn erfuhr diese dunkle Seite von ihr hautnah. „Die Alice hat mich nicht ein einziges Mal vor dem Vater verteidigt. Sie hat zugeschaut, wie er zugeschlagen hat“, erzählt Martin Miller…
Große Resonanz in mir lösen die Worte des Trappisten Thomas Merton (†1968) aus:
Was die Menschen zu bösen Handlungen hinzieht, ist nicht das Böse in ihnen, sondern das darin steckende Gute, das sie mit einer verzerrten Perspektive unter einem falschen Aspekt sehen. Das aus diesem Blickwinkel gesehene Gute ist nur der Köder in einer Falle. Wenn man nach ihm greift, um ihn sich zu nehmen, schnappt die Falle zu und man sitzt mit Ekel, Langeweile – und Hass da. Sünder sind Menschen, die alles hassen, weil ihre Welt notwendigerweise voller Verrat, voller Illusion, voller Enttäuschung ist. [1]
Das Böse nach Merton „ist keine positive Wesenheit, sondern das Fehlen einer Vollkommenheit, die vorhanden sein sollte.“
Mit anderen Worten: Es macht keinen Sinn, Menschen zu dämonisieren.
Das mir begegnende Böse ist nicht Heike, es ist die Hölle, die ich mir selbst bereite, wie der Vogel, der es nicht lassen kann, gegen die Scheibe zu fliegen. Ich widerspreche hier Sartres Satz: „Die Hölle, das sind die anderen.“ [2] – Nein, die Hölle, das sind wir selbst.
Das Böse, welches wir tun…
Und ich bin tief davon überzeugt, dass das Böse, welches wir Menschen tun, nie böse gemeint ist. Alle möchten die Welt retten, die Linken, die Grünen, die Rechten, die Islamisten. Auch die Russen.
Die Frage ist, ob die Welt überhaupt gerettet werden muss. Vielmehr müssen wir vielleicht nur uns selbst retten; in unserer Unvollkommenheit und in unserem Größenwahn. Statt wie ausrastende Dreijährige unsere Mitmenschen zu bedrohen und zu versuchen, ihnen unseren Willen aufzuzwingen, wenn uns die Welt nicht gefällt.
„Warum siehst du jeden kleinen Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu ihm sagen: ›Komm her! Ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen!‹, und dabei hast du selbst einen Balken im Auge! Du Heuchler! Entferne zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du klar sehen, um auch den Splitter aus dem Auge deines Mitmenschen zu ziehen.“ Matthäus 7:3-5 (HFA)
Niemand wird die spiegelnde Scheibe für uns zukleben. Niemand wird uns sagen, dass wir einen sinnlosen Kampf führen. Wir können nur an uns selbst arbeiten und Bewusstheit erlangen.
Und vielleicht wäre es dafür auch sinnvoll, miteinander zu reden. Die Linken mit den Rechten zum Beispiel. Reden, statt dämonisierende Brandmauern zu errichten.
Oder Muslime mit den Christen, statt sie töten zu wollen.
–
[1] Thomas Merton (2010). Christliche Kontemplation. Ein radikaler Weg der Gottessuche. München: Claudius.
[2] Jean-Paul Sartre (1949). Geschlossene Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt.
[→ Zur Übersichtsseite meines Blogs]