Melancholie

Nachthimmel

Melancholie

„Ist das noch immer eine menschliche Welt, wenn kein Platz darin ist für all die Schwachsichtigen und Schüchternen, die lieber träumen und über die Welt nachdenken, als sie zu erobern und zu beherrschen?“

Dzevad Karahasan [1]

 

„Alles wird überlagert von Geschwätz und Lärm… Stille und Empfindsamkeit, Gefühl und Angst, die spärlichen, unsteten Augenblicke von Schönheit, und dann das trostlose Elend und der erbärmliche Mensch.“

La Grande Bellezza [2]

Ich mag traurige Geschichten. Vielleicht muss man diese auch mögen, wenn man psychotherapeutisch arbeitet. Denn ich höre den ganzen Tag traurige Geschichten. Menschen würden wohl keine Therapie machen, wenn ihre Geschichte nicht traurig wäre. 

Doch niemand möchte, dass das eigene Leben eine traurige Geschichte ist – ich eingeschlossen. In der Tat ist es so, wie Jordan Peterson in einem Vortrag sagte: „Wir möchten, dass das eigene Leben eine Komödie ist. Zumindest soll es keine Tragödie sein.“ Es geht nicht darum, dass wir immer nur lachen wollen würden, aber unser Leben soll nicht tragisch und traurig sein.

Warum also mag ich traurige Geschichten? Weil ohne sie das Leben flach und eindimensional bleibt. Eine Komödie macht selten nachdenklich. Ohne Tragik entwickeln wir uns nicht. Menschen, die Psychotherapeuten aufsuchen, sind selten oberflächlich. Das sind sie nicht freiwillig. Sondern weil sie leiden. 

Patienten sagen oft zu mir: „Wie halten Sie das nur aus? Den ganzen Tag nur schreckliche Geschichten anhören.“ Fast entschuldigen sie sich manchmal dafür, dass sie so viel in der Stunde „gejammert“ haben. 

Dabei ist gerade das ein so wichtiger Teil der Therapie: Zuhören, halten, containing, das Leid teilen. Keine Besserwisserei, keine Belehrung… Ich weiß selbst, wie sich Leid anfühlt. 

Leid ist etwas Normales. Es gehört zu Leben dazu. Ja, wir wollen das nicht. Doch ist ein Leben ohne Leid unmöglich. Es ist ein Teil der condition humaine. Kristin Neff prägte den Begriff „common humanity“ [3]. Höre ich traurige Geschichten, weiß ich, dass ich nicht allein bin mit meinem Leid. 

Das ist das Schreckliche an der normalen Welt außerhalb der Psychotherapie: Jede und jeder möchte einem vermitteln, dass Leid unnormal wäre. Und es gibt tausend gute Ratschläge gegen das Leid. 

Kommen Sie nicht in eine Psychotherapie, wenn Sie gute Ratschläge suchen! Die gibt es nur von Menschen, die etwas verkaufen möchten. So, wie natürlich auch ein neues Auto glücklicher machen kann. Doch löst es nicht das Leid. Wie auch ein Lastenrad nicht. 

Natürlich gibt es Lösungen für Probleme. Doch schaffen sie meist auch neues Leid.

Trauerarbeit und Melancholie

Oft erscheint es mir so, als wolle sich die Menschheit den Verlust nicht eingestehen, an dem sie beständig arbeitet. Hilflos wird Optimismus gesät, wo vielleicht Trauerarbeit geleistet und Melancholie gelebt werden müsste. 

Wie erstaunt sind wir, dass es schon wieder Krieg gibt. Wie erstaunt, dass immer wieder dasselbe geschieht: Leid, gefolgt von Menschen, die es glauben beheben zu können und mit ihren Lösungsversuchen, aus denen Ideologien entstehen, wieder neues Leid erschaffen.

„Grün kaputt“, eine Ausstellung Anfang der 1980er Jahre über die Zerstörung unserer Landschaft, das sind nicht nur seelenlose Gewerbegebiete, Schottergärten, Stabmattenzäune oder die klobigen, engen Neubausiedlungen mit winzigen Balkonen, die ICE-Trasse vorn, die Schnellstraße hinten. Das sind auch die Windräder, die aus friedlichen Landschaften Industrieparks machen, das Dröhnen der Wärmepumpen, das an kalten Wintertagen verschlafene Siedlungen beschallt. Die von bläulich schimmernden Sonnenkollektoren bedeckten Felder, die man aus der Ferne manchmal für Seen hält – „…das trostlose Elend und der erbärmliche Mensch.“ Erbärmlich, weil man sich seiner erbarmen müsste. 

„Wo sieht man heutzutage noch Bauernhöfe, die langen roten Ziegeldächer eingegrünt, in hohen Laubkronen geborgen. Oder in die Pracht blühender Apfelbäume eingehüllt. Dächer unter hohen Bäumen. Sinnbild von Schutz und Wärme. Vom Dorf bis zum Gehäuse einer alten Stadt. Behagliche Gemeinsamkeit. Gebaute und gepflanzte Nachbarschaft.“ Grün kaputt [4]

Es ist weder „woke“ noch fortschrittlich, was ich schreibe. Vielmehr bleibe ich auf der Rolltreppe stehen, die nach unten fährt (Hartmut Rosa). Ich weiß, was passieren wird. Ich weiß, dass ich weder oben ankommen, ja nicht einmal meinen Status quo halten kann. Ich werde sterben. Melancholie. 

So, wie wir alle sterben werden: Jene, die gekämpft haben, laut waren, etwas bewegen wollten, vielleicht sogar dem Ego ein Denkmal gesetzt haben, indem man sie in Geschichtsbüchern für erwähnungswürdig befand. Als auch jene, die auf der Rolltreppe stehenblieben. 

Dies ist keine Aufforderungen zur Resignation, keine depressive Feststellung. Vielmehr eine gelassen achtsame Bestandsaufnahme dessen, was ist. Sicher melancholisch, sicher auch traurig. Aber in dieser Melancholie und Traurigkeit auch freudvoll. 

„Ich kann mir kein Paradies vorstellen, ohne Möglichkeit, ohne Recht, melancholisch zu sein. Ich glaube, auch im Paradies müsste es eine Ecke geben, in der Melancholiker sitzen, rauchen, traurige Geschichten erzählen, ihre Sehnsüchte pflegen, und ihre Freude daran, traurig zu sein.“ Dzevad Karahasan

Vielleicht hat ja die christliche Theologie recht, dass diese Welt eben nicht heil ist und auch nicht durch menschliches Tun heil werden kann.

Das Heil der Welt

Heiligkeit, Heilung, entsteht nicht durch Konzepte und nicht durch Ideologien. Heiligkeit kann nicht durch den Menschen entstehen. Nicht dadurch, dass wir andere belehren, was sie besser machen sollen. Denn wer will sich anmaßen, es besser zu wissen? 

Natürlich wurde das zahlreich in der Menschheitsgeschichte versucht. Angefangen bei der Kirche des Mittelalters über den „sozialistischen Menschen“, welchen sich die SED-Diktatur in der DDR erträumte, bis zur heutigen Wokeness-Debatte. 

Doch jeglicher menschliche Horizont ist begrenzt. Und man kann nicht in jene unterscheiden, die wissen und jene, die Irrwegen folgen. Manchmal weiß man, manchmal irrt man.

„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein…“ Johannes 8;7

Aber da es ein Wert unserer Gesellschaft ist, wissend zu sein, glauben viele zu wissen. Und sie werfen somit auch gerne den ersten Stein. 

Der Segen der Melancholie

Steinewerfer sind beliebt, weil sie nützlich sind. Melancholiker dagegen sind schlechte Soldaten. Auch sind sie schlechte Partygäste.

Und dennoch hat es Vorteile, melancholisch zu sein: Jedem ist bewusst, dass Glück vergänglich ist, dass man es nicht festhalten kann. Und eben, dass man sich irren kann – vor allem in Menschen. Aber auch, was Entscheidungen betrifft. 

Eine melancholische Sichtweise der Welt jedoch ist eine treue Begleiterin. Sie umschließt sanft und liebevoll vergangenes Glück und verlorene Lieben. All jene schönen Dinge, die nicht mehr sind oder nie werden sein dürfen. Melancholie ist Demut, ein Mittel gegen Verletzungen und daraus sprießenden Hass. Melancholie ist Annahme dessen, was ist.

Optimismus und Melancholie 

Und wo bleibt der Optimismus, der sich über hunderte Studien als so wichtig für Psyche, Gesundheit und Leben erwiesen hat? Man könnte Optimismus als das Gegenteil der Melancholie ansehen. Doch ist er eher jene Helfer, der Melancholie erst möglich macht.  

Ich möchte hier auf Martin Schleskes harmonische Gegensätze zu sprechen kommen: 

„Harmonische Gegensätze bilden […] immer ein doppeltes Wortpaar. Das erste Wortpaar ist das, worin wir leben sollen, das zweite Wortpaar das, was wir meiden sollen. Vertrautheit und Überraschtheit sind die notwendigen harmonischen Gegenpole seelischer Schönheit, Banalität und Willkür aber Ausdruck einer hässlichen Heillosigkeit.“ [5]

Optimismus ist nicht der positive Gegenpol zu Melancholie. Optimismus ist der positive Gegenpol zu Narzissmus; einem Narzissmus, der sich unfehlbar im Recht sieht und anderen Menschen Meinungen und Lösungen aufzwingt. 

Narzissmus wird geheilt durch Melancholie. Dem Eingeständnis des Leids. Der Akzeptanz des Leids. 

Die Wortpaare in diesem Beispiel sind also Optimismus und Melancholie auf der positiven Seite und Narzissmus und Depression auf der negativen. Denn Optimismus wiederum korrigiert Depression zur Melancholie. 

Melancholie und der Nutzen von Psychotherapie

Ich möchte diesen Blog-Artikel nicht beenden, ohne ein paar Fragezeichen aus der Welt zu räumen, die durch ihn vielleicht entstanden sind. 

Dass das Leid unvermeidbar ist, bedeutet nicht, dass man in einer Therapie nicht lernen könnte, das eigene Leiden, also das, was wir aus unserem Leid machen, zu reduzieren. Darin sehe ich vielmehr den zentralen Sinn von Psychotherapie. Lernen ist ein Prozess. Ginge es um Ratschläge, wäre eine Therapie nach ein paar Sitzungen beendet. Manchen Menschen reicht in der Tat eine kurze Therapie. Andere begleite ich schon über viele Jahre. Nicht, weil sie nicht schnell genug lernen würden, sondern weil das Leben ihnen mehr Leid zumutet. Oder sie eben mit mehr Tiefe segnet. 

[1] Dzevad Karahasan (2016). Der Trost des Nachthimmels. Berlin: Suhrkamp.

[2] Paolo Sorrentino [Regie] (2013). La Grande Bellezza – Die große Schönheit. 

[3] Kristin Neff (2012). Selbstmitgefühl. München: Kailash.

[4] Dieter Wieland [Hrsg.] (1986). Grün kaputt. Landschaft und Gärten der Deutschen. München: Raben-Verlag.

[5] Martin Schleske (2010). Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens. München: Kösel.

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